{"id":61214,"date":"2020-04-06T06:28:18","date_gmt":"2020-04-06T04:28:18","guid":{"rendered":"https:\/\/www.studienverlag.at\/produkt\/\/novotnys-mumie\/"},"modified":"2025-04-20T07:36:41","modified_gmt":"2025-04-20T05:36:41","slug":"novotnys-mumie","status":"publish","type":"product","link":"https:\/\/www.studienverlag.at\/produkt\/2259\/novotnys-mumie\/","title":{"rendered":"Novotnys Mumie"},"content":{"rendered":"
Alfred Bittner (1914-1989) lebte in Wien. „Novotnys Mumie“ f\u00fchrt zur\u00fcck in die letzten Kriegsjahre in Wien. Die Lebensbedingungen in der bombardierten Stadt bilden die Folie f\u00fcr eine grotesk-skurrile Erz\u00e4hlung. Im Mittelpunkt steht die Geschichte eines arisierten Chemiebetriebes, in dem der neue Inhaber ein Rezept seines j\u00fcdischen Vorg\u00e4ngers entdeckt, das nicht nur f\u00fcr die SS, sondern auch f\u00fcr den alliierten Geheimdienst von h\u00f6chstem Interesse ist.<\/P>
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Mit einem Nachwort von Walter Klier.<\/P>
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Leseprobe:<\/P>
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Nach den Schilderungen jener Einwohner von Neulengbach, die bei der Auffindung von Nathan und von Nora Nachtmann zugegen gewesen waren, mu\u00dften die Leichen des j\u00fcdischen Ehepaares, wie sie da friedlich in den Ehebetten gelegen hatten, genauso ausgesehen haben: ausgezeichnet konserviert, wie lebendig, doch wenn man sie anfa\u00dfte, beinhart, wie aus Holz. Nathan Nachtmann in einem hellblau-dunkelblau gestreiften Pyjama, Nora Nachtmann in einem lang\u00e4rmeligen rosa Flanell-Nachthemd mit kleinem Blumenmuster – als k\u00f6nnten sie jeden Augenblick g\u00e4hnend und blinzelnd aufwachen und nach dem Wecker tasten, um ihn zum Schweigen zu bringen, oder auch nach dem Porzellan-Nachttopf unter dem Bett (ebenfalls mit kleinem Blumenmuster) – doch h\u00f6lzern starr, wie gesagt, wenn auch etwas elastisch, leicht federnd zum Beispiel die Arme, die H\u00e4nde und die Finger. Dementsprechend soll es dann auch bei der Ein-\u00e4scherung ungew\u00f6hnlich zugegangen sein. N\u00e4mlich h\u00e4tten sich die Leichen nicht wie \u00fcblich aufgeb\u00e4umt, aufgebl\u00e4ht oder \u00fcberhaupt bewegt, sondern w\u00e4ren ohne sich zu r\u00fchren mit ruhiger, gleichm\u00e4\u00dfiger Flamme verbrannt – eben wie Holz.
Genauso, genauso also sahen die Fl\u00f6he, L\u00e4use und Wanzen aus, deren Kadaver – aber wie noch lebendig, als k\u00f6nnten sie jederzeit davonkriechen oder -h\u00fcpfen – auf den wei\u00dfen Karton hinter der Glasscheibe geklebt waren; geklebt, weil sie dem usuellen Aufgespie\u00dftwerden starken Widerstand geleistet hatten und dabei vielleicht zersplittert w\u00e4ren. Stolz und zufrieden hielt Novotny die kleine Vitrine, den kleinen Schaukasten hoch und betrachtete noch einmal die toten Insekten, ehe er den Schaukasten einpackte. Beim Einpacken \u00fcberlas er auch noch einmal die Beschriftung, die aussagte, da\u00df die – mit ihren wissenschaftlichen Namen angef\u00fchrten – Insekten durch eine nur sekundenlange Einwirkung der D\u00e4mpfe von Rigorin get\u00f6tet worden waren. In Ordnung. Den verpackten Schaukasten stellte er dann in eine Ecke des stillen Labors, wo auch schon ein verpackter 10-Liter-Kanister mit Rigorin stand. H\u00fcbsch, wie die milden Strahlen der fr\u00fchherbstlichen Morgensonne auf die beiden Pakete fielen.
Danach kratzte Novotny sich das sorgf\u00e4ltig rasierte Doppelkinn und \u00fcberlegte, welchen Anzug er anziehen sollte – oder gar keinen Anzug, sondern besser die schwarze SS-Uniform? Er entschied sich f\u00fcr die Uniform, denn schlie\u00dflich war das heute ein hochpolitischer Anla\u00df. Schon m\u00f6glich, da\u00df die Herren im Generalkommando XVII keine besondere Vorliebe f\u00fcr SS-Uniformen hatten, aber er brachte durch die Uniform zum Ausdruck, da\u00df er nicht als irgendein Gesch\u00e4ftemacher zur Besprechung kam, welcher der Wehrmacht irgendwas andrehen wollte, sondern als Gefolgsmann des F\u00fchrers, der sein Scherflein zum Endsieg beitragen wollte. Scherflein? Das war wohl allzu bescheiden ausgedr\u00fcckt.
W\u00e4hrend Novotny zu seiner Privatwohnung hinaufstieg, festigte sich in ihm noch die \u00dcberzeugung, da\u00df dieser Sonntag, der 10. September 1944, ausersehen war, zu einem bedeutenden Tag in seinem Leben zu werden. Ausersehen, ganz richtig. Wenn sich die Vorsehung des F\u00fchrers bediente, um ihre Absichten zu verwirklichen – und erst vor knapp zwei Monaten, am 20. Juli, hatte sie ihn wieder einmal vom Tode errettet, um ihn weiter f\u00fcr Deutschland t\u00e4tig sein zu lassen -, warum sollte sie dann ihr Auge nicht auch auf die Getreuen des F\u00fchrers haben? Befreite sich die Wehrmacht mit seiner, Novotnys, Hilfe von den Fl\u00f6hen, L\u00e4usen, Filzl\u00e4usen und Wanzen, die in einem nicht zu untersch\u00e4tzenden Ausma\u00df ihre Kampfkraft l\u00e4hmten, und zog sie so wieder das Kriegsgl\u00fcck auf sich, dann reihte er sich unter die gro\u00dfen Wehrwirtschaftsf\u00fchrer ein. Aber wollte er sich auch – mit einiger M\u00fche – in die Gedankeng\u00e4nge der Zweifler und Miesmacher versetzen und den Endsieg f\u00fcr unsicher halten – was f\u00fcr enorme M\u00e4rkte w\u00fcrden sich nach dem Krieg auf jeden Fall f\u00fcr Rigorin er\u00f6ffnen! Bei den Abermillionen rassisch Minderwertigen n\u00e4mlich, in Ost und S\u00fcd und wei\u00dfgott wo noch, die ihre Sauwirtschaft notorisch dem Ungeziefer auslieferten. Und sollte das Gro\u00dfdeutsche Reich auch leider darniederliegen und eine Zeit lang als Kreditgeber ausfallen, die Amerikaner w\u00fcrden ihm, Novotny, mit Kreditofferten nachlaufen, damit er sie am gigantischen Rigorin-Gesch\u00e4ft mit den Blo\u00dff\u00fc\u00dfigen mitnaschen lie\u00dfe.
Novotny hielt schon die schwarze Hose in der Hand, z\u00f6gerte aber, sie anzuziehen, weil er, den Vorhang zur Seite geschoben, noch kurz auf den Fabrikshof hinuntersehen wollte. Da wuschen und polierten Wassili und Pjotr, die Ostarbeiter, den schwarzen Horch. Das war von ihnen auch zu verlangen, wenn er, Novotny, schon wie ein Vater zu den Leuten in der Russenbaracke war. Au\u00dferdem wurden die beiden von Herrn Stejskal beaufsichtigt. Aber Stejskal h\u00e4tte nicht Sonntag fr\u00fch im wei\u00dfen Mantel dastehen m\u00fcssen, um Ostarbeiter zu beaufsichtigen. Immerhin stand die Rote Armee schon in Ungarn, und der Stejskal h\u00e4tte, als weniger korrekter Mensch, schon \u00fcberm\u00fctig sein k\u00f6nnen. Nein, er wars nicht. Er hatte sogar die Holzgasanlage hinten am Horch, die so leicht rostig wurde, frisch mit Aluminiumbronze anstreichen lassen. Ein Arier eben, Treue um Treue! Es war schon ein richtiger und sehr feiner Schachzug gewesen, den Stejskal, den Spanien-k\u00e4mpfer und Erzroten, in den Betrieb hereinzunehmen und ihn gegen die Gestapo abzusichern. Der w\u00fcrde einem die humane Gesinnung, die auch in der schwarzen Uniform bewahrte humane Gesinnung bezeugen – im Falle des Falles, bei einer eventuellen Wendung des Blattes, und sollten gar Nachtmann-Erben auftauchen und Verleumdungen auftischen.
Novotny zog den Bauch ein, schnallte den Leibriemen um ein Loch enger, \u00fcberpr\u00fcfte den Sitz der Uniform vor dem Spiegel und wischte mit einem Zipfel des Bademantels noch einmal \u00fcber die blank geputzten Stiefel. Dann ging er ins Schlafzimmer hin\u00fcber, um die Aktentasche zu holen; auf Zehenspitzen, denn Nelly schlief noch. Sie sah dabei, den Arm hinter dem Kopf, die rosige linke Brust entbl\u00f6\u00dft, reizend aus. Novotny verstand nicht recht, warum er sich mit der Lukesch von der F\u00fcllmaschine etwas anfangen und sie zuguterletzt hatte schw\u00e4ngern m\u00fcssen. Allerdings war die Lukesch jetzt erst im vierten Monat. In den weiteren f\u00fcnf Monaten konnte noch viel passieren, und die Geburt des oder der kleinen Novotny (offiziell: des oder der kleinen Lukesch) hatte gute Aussicht, in den weltpolitischen Ereignissen – den erfreulichen oder notfalls auch den unerfreulichen – unterzugehen.
Novotny klemmte die Aktentasche unter den Arm, holte Kanister und Schaukasten aus dem Labor und trat auf den Hof hinaus. Die Russen und Herr Stejskal waren nicht mehr da. Es war 7 Uhr 20. Brauchte er eine halbe Stunde nach Wien und sollte er um zehn im Generalkommando sein, so blieb noch genug Zeit f\u00fcr die Erledigung in der – wie hie\u00df sie? – in der Kurrentgasse. Er sah zufrieden um sich, bevor er die Sachen in den Horch verlud. Sauber und ordentlich sah die Fabrik aus. Sch\u00f6n auch das Fabrikstor mit dem Emblem NNNN in schwungvollen Schmiedeeisen-Buchstaben: Neulengbacher Noricum-Werke Norbert Novotny. Ein ausgesprochener Gl\u00fccksfall, da\u00df der Vorbesitzer Nathan Nachtmann gehei\u00dfen hatte. So hatte sich eine \u00c4nderung des einpr\u00e4gsamen Firmenzeichens er\u00fcbrigt, nachdem der Betrieb in arischen Besitz \u00fcbergegangen war. Dem alten Juden, wenn er jetzt vielleicht an der Seite von Moses oder David thronte, w\u00e4re zu verg\u00f6nnen, die Fabrik in ihrem schmucken Zustand zu sehen; schon daf\u00fcr, da\u00df er sich anno 39 sang- und klanglos umgebracht und es zu keinerlei Peinlichkeiten und Komplikationen hatte kommen lassen.
Novotny fuhr langsam auf die Allee hinaus, die bald in die Bundesstra\u00dfe nach Wien einm\u00fcndete. Sonnendurchleuchtete Nebelschwaden lagen \u00fcber der Stra\u00dfe und den abgeernteten Feldern. Die Bundesstra\u00dfe war dann schon nebelfrei, und kurz darauf kam das Schild, welches das Ortsende anzeigte. Novotny beschleunigte das Tempo. Unsichtbar fuhr die Vorsehung mit, er fuhr dem Erfolg entgegen.<\/P><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"Alfred Bittner (1914-1989) lebte in Wien. „Novotnys Mumie“ f\u00fchrt zur\u00fcck in die letzten Kriegsjahre in Wien. Die Lebensbedingungen in der bombardierten Stadt bilden die Folie f\u00fcr eine grotesk-skurrile Erz\u00e4hlung. Im Mittelpunkt steht die Geschichte eines arisierten Chemiebetriebes, in dem der neue Inhaber ein Rezept seines j\u00fcdischen Vorg\u00e4ngers entdeckt, das nicht nur f\u00fcr die SS, sondern… Mehr<\/a>","protected":false},"featured_media":23739,"template":"","meta":{"_acf_changed":false},"product_brand":[],"product_cat":[153],"product_tag":[],"class_list":{"0":"post-61214","1":"product","2":"type-product","3":"status-publish","4":"has-post-thumbnail","6":"product_cat-belletristik","8":"first","9":"instock","10":"taxable","11":"shipping-taxable","12":"purchasable","13":"product-type-simple"},"acf":{"id_intern":"2259","erscheinungsdatum":"2001-08-30","isbn13":"978-3-7066-2259-2","isbn10":"3-7066-2259-9","verlag":"Skarabaeus","ist_magazin":"","reihe":null,"band":null,"untertitel":"Erz\u00e4hlung","autor":[],"buchausstattung":null,"seitenanzahl":"184","lieferbarkeit":"lieferbar","schlagworte":"Arisierung, Krieg, Nationalsozialismus, SS, Geheimdienst, Chemiebetrieb, Wien, Alfred Bittner, Walter Klier","imageurl":"","vorschau_vorhanden":null,"related-posts":null,"als_ebook_verfuegbar":"","ebook_isbn":"","ebook_isbn10":"","innenansichten":[],"umschlag":"broschiert","pressestimmen":"","zusatzinfos":null,"zu_loeschen":"","autorenbiographie":"","product_preview_url":null},"yoast_head":"\n