\u201eIhr Flucht ist eine Reaktion auf Gewalt. W\u00e4hrend in der gesamten Menschheitsgeschichte Menschen vor Menschen, Tieren oder Naturkatastrophen geflohen sind, ist ihre Kategorisierung als \u201aillegale\u2018 oder \u201alegale\u2018 Einwanderer, Fl\u00fcchtlinge, Asylant*innen, Vertriebene, Displaced Persons, Evakuierte, Internierte, sind Reisep\u00e4sse, Konventionalp\u00e4sse, Visa, Aufnahme- und Fl\u00fcchtlingslager Erfindungen des 20. Jahrhunderts. Gef\u00e4ngnisse f\u00fcr Gefl\u00fcchtete entstanden erst unl\u00e4ngst in der Europ\u00e4ischen Union, in Ungarn, Bulgarien und Griechenland, und auch an der EU-Au\u00dfengrenze zwischen Serbien und Ungarn, in Folge der EU-Politik auch in der T\u00fcrkei, im libyschen Tripolis und anderswo. Einige dieser Gef\u00e4ngnisse schaffen Bedingungen der permanenten Entrechtung und Entw\u00fcrdigung. Staatsregierungen in der Europ\u00e4ischen Union und die Europ\u00e4ische Kommission tragen Mitverantwortung f\u00fcr die systematische Verletzung der Menschenrechte.1<\/a><\/p>\n
Historiker*innen, Politik- und Rechtswissenschaftler*innen und Soziolog*innen untersuchen diese verh\u00e4ngnisvollen Entwicklungen als Folgen kriegerischer, teilweise auch globalisierter Konflikte, regionaler Armut, \u00f6kologischer Katastrophen und westlicher Gouvernementalit\u00e4t.2<\/a> Immer deutlicher unterscheiden sich Fluchten und Fluchtmigrationen aus den Kriegs- und Krisengebieten der Welt von anderen Migrationen im 19., 20. und 21. Jahrhundert. Aber nicht alle, die sich innerhalb eines Landes oder \u00fcber Landes- und Kontinentalgrenzen bewegen, sind auf der Flucht. Sehr oft koppeln sich Phasen der Migration an Phasen der Flucht und umgekehrt. Dann sprechen wir von \u201aFluchtmigration\u2018. Genau davon wird in diesem Band ausf\u00fchrlich die Rede sein.<\/p>\n
Die seit den 1930er Jahren entwickelten Theorien, Konzepte und Begriffe der Migrationssoziologie\u00a0\u2013 Assimilation, Absorption, Akkulturation, Integration3<\/a> u. a.\u00a0\u2013 passen f\u00fcr die rezenten Formen der Flucht und der Fluchtmigration nur bedingt oder stellen sich im Licht neuer empirischer Studien als zu normativ, mechanistisch, linear und unterkomplex heraus. Eine \u00fcberwiegend junge Generation von Kultur- und Sozialwissenschaftler*innen stellt neue Fragen und er\u00f6rtert \u00e4ltere Fragen der Migrationssoziologie angesichts rezenter Entwicklungen von einem weniger staatsnahen Standpunkt und somit in einer neuen und vornehmlich qualitativen Perspektive: Was genau veranlasst Menschen zur Flucht? Welche Seiten des Menschen\u00a0\u2013 k\u00f6rperliche, psychische, mentale, kognitive, professionelle\u00a0\u2013 werden dabei beansprucht? Wie unterscheidet sich das subjektive Erleben der Flucht vom Erleben anderer Formen der Migration? Und welche besonderen objektiven und subjektiven Aspekte kennzeichnen das (politische) Asyl bzw. den subsidi\u00e4ren Schutz der Europ\u00e4ischen Union (EU) im Unterschied zur Aufnahme von Migrant*innen in klassischen Einwanderungsl\u00e4ndern? Wie bew\u00e4ltigen Frauen, M\u00e4nner, Kinder und Jugendliche, letztere oft \u201aunbegleitet\u2018, die Flucht bzw. die Fluchtmigration, das Asyl, die Internierung oder die R\u00fcckschiebung? Auf welche Weise und mit welchen Auswirkungen auf ihre Lebensf\u00fchrung f\u00fcgen sie ihr Erleben autobiographisch in die Vorstellung von ihrer Geschichte und in den Plan f\u00fcr ihr weiteres Leben ein? Neu sind aber auch folgende Fragen: Wie gehen die \u201aEinheimischen\u2018 mit Gefl\u00fcchteten um? Was \u00e4ngstigt sie oder weckt ihre Abwehr oder erzeugt verdeckte und offene Aggression? Und nicht zuletzt: Was meint aus der Sicht der Regierungen der aufnehmenden Staaten und ihrer B\u00fcrger*innen die \u201aIntegration\u2018 von Gefl\u00fcchteten?<\/p>\n
Die Leitidee der Migrationsforschung des 20. Jahrhunderts war die m\u00f6glichst rasche Integration aller Zuwander*innen. Einer ihrer besten Theoretiker, Shmuel N. Eisenstadt, untersuchte die Einwanderung in den neu gegr\u00fcndeten Staat Israel. Er sprach selten von Integration, aber ausdr\u00fccklich von Absorption. Diese allerdings vollziehe sich nicht, wie Pioniere der Migrationssoziologie vor ihm dachten und schrieben, in einer irreversiblen und linearen Abfolge von drei oder mehr Phasen. Eine vollst\u00e4ndige Absorption hielt Eisenstadt f\u00fcr den ungew\u00f6hnlichsten und h\u00f6chst seltenen Fall, dennoch hielt er an der Idealvorstellung einer g\u00e4nzlichen Absorption des Fremden zugunsten der Staats- und Nationsbildung fest.4<\/a> Dieses Ideal bestimmt bis heute den gouvernementalen Diskurs. F\u00fcr rezente Fluchten und Fluchtmigrationen aus Kriegs- und Krisengebieten kann dieses Ideal nicht ohne weiteres gelten. Zu spezifisch und vielf\u00e4ltig sind ihre Gr\u00fcnde und Formen, die sozialen, \u00f6konomischen und psychischen Bew\u00e4ltigungsstrategien der Fl\u00fcchtenden und Gefl\u00fcchteten, aber auch die Ma\u00dfnahmen der staatlichen und suprastaatlichen Fl\u00fcchtlingspolitik und die Hilfsbereitschaft, aber auch die Bedenken und \u00c4ngste der aufnehmenden Gesellschaft. Die Besonderheiten durch empirische Forschung herauszuarbeiten und in den politischen Diskurs einzubringen ist die Aufgabe, die wir uns bei der Vorbereitung dieses Band gestellt haben.<\/p>\n
In diesem Zusammenhang wird in der kulturwissenschaftlichen Forschung er\u00f6rtert, ob ein Mensch oder eine Menschengruppe denn \u00fcberhaupt einer distinkten \u201aKultur\u2018 angeh\u00f6rt, und ob nicht jeder Mensch und jede Menschen-Gruppe (etwa eine Familie oder eine Gemeinde) mehrere und verschiedene kulturelle Einfl\u00fcsse in sich tragen. Ist ein Mensch und ist eine Soziet\u00e4t von Menschen jemals kulturell homogen?5<\/a> Wenn Gefl\u00fcchtete aus Weltregionen mit anderen normativen Vorstellungen und Praktiken in einem europ\u00e4ischen oder nordamerikanischen Land eintreffen, gelangen sie an einen Ort, der wie ihr Herkunftsland\u00a0\u2013 nehmen wir Syrien oder Afghanistan\u00a0\u2013 seit langem kulturelle Vielfalt kennt. Warum aber dann die Abwehr und die Feindseligkeit gegen\u00fcber Gefl\u00fcchteten?<\/p>\n
Statt den im 20. Jahrhundert noch unstrittigen westlich-modernen gouvernementalen Master-Plan der Integration aller Fremden im Nationalstaat weiterzuschreiben haben die Sozial- und Kulturwissenschaften heute einen umstrittenen Part. Sie sind Partei in einem Bedeutungskampf, in einem Lern- und Gestaltungsprozess des europ\u00e4ischen, nordamerikanischen und pazifischen Westens, in den die Regierungen und die B\u00fcrgerschaften der Staaten zu unterschiedlichen Zeitpunkten, mit verschiedenen Ressentiments und politischen Strategien eingetreten sind. Was f\u00fcr die B\u00fcrger*innen demokratisch-republikanischer Staaten ansteht, ist die Revision der Vorstellung, eine kulturell homogene, klar von anderen Gesellschaften abgrenzbare Gesellschaft zu bilden. In den letzten Jahrzehnten wuchs die Modernit\u00e4tsdifferenz zwischen der politischen und der sozialkulturellen und sozio\u00f6konomischen Verfassung: Die politischen Konzepte des 19. Jahrhunderts, allen voran die Konzepte des (ethnisierten) Nationalstaates und nationalstaatlicher Regierungen sind ebenso wie die Vorstellung einer \u201anationalen\u2018 Wirtschaft der kulturellen Vielfalt und dem sozio\u00f6konomischen und soziokulturellen Weltzusammenhang nicht angemessen. Umso erstaunlicher, dass v\u00f6lkisches Denken erneut Konjunktur hat und sogar ehemals marxistische bzw. historisch-materialistische Denker den europ\u00e4ischen Nationalstaat gegen die \u201eFl\u00fcchtlingsflut\u201c verteidigen und in Spenglerscher Manier den Untergang des Abendlandes an die Wand malen.6<\/a> Wir hingegen hoffen und meinen, dass demokratische Staatenb\u00fcnde (wie im Ansatz die EU), die apriori ethnisch-kulturelle und sprachliche Vielfalt und einen transnationalen Wirtschaftsraum organisieren, eher als der Nationalstaat geeignet sind, Vielfalt demokratisch zu verwalten. Wieso kam es zu dieser Modernit\u00e4tsdifferenz? Und wie k\u00f6nnte sie abgebaut werden? Wo stehen wir heute? Wenn man dem Anschein der Hilfsgemeinschaften im Herbst 2015 an den Grenz\u00fcberg\u00e4ngen und auf den gro\u00dfen Bahnh\u00f6fen trauen darf, waren es im soziologischen Sinn B\u00fcrger*innen und Kinder von B\u00fcrger*innen, die erstmals eine emphatische \u201eWillkommenskultur\u201c schufen, also schon dem Namen nach etwas erzeugen und ausdr\u00fccken mussten, was so vorher nicht oder nur in schwachen und kurzlebigen Formen bestand.<\/p>\n
Nach einer langen Schrecksekunde artikulierten sich B\u00fcrger*innen gegen den \u201eZustrom\u201c an \u201eFremden\u201c, insbesondere weil es nicht mehr gelang, auch nur \u201adie Identit\u00e4t\u2018 der Ankommenden festzustellen. Dies triggerte alte, vielleicht atavistische \u00c4ngste vor unbekannten Fremden. Sie wurden als Eindringlinge wahrgenommen, die den Wohlstand bedrohten. Von den B\u00fcrger*innen, die sich mehr oder minder aggressiv zu Wort meldeten, wird gesagt, sie bildeten eine \u201eradikalisierte utopielose Mitte\u201c der Gesellschaft Europas.7<\/a> Doch zumindest der Befund der Utopielosigkeit ist falsch. F\u00fcr diese Mitte er\u00f6ffnet sich eine retrograde oder regressive Utopie, ein Nicht-Ort von gestern. Sie will eine \u201aeigene\u2018, abgegrenzte, identit\u00e4re und nationale Gesellschaft. Nach \u201aSchlie\u00dfung\u2018 der Grenzen und nach Ausweisung und R\u00fcckschiebung aller nicht \u201aassimilierten\u2018 und \u00f6konomisch \u201aunn\u00fctzen\u2018 Fremden will sie ganz unter sich sein. So wie es nie war.<\/p>\n
Infolgedessen gelangt die j\u00fcngere und j\u00fcngste Flucht-Forschung zu anderen Modellbildungen und Theorien als die \u00e4ltere Migrationssoziologie und die Migrationsstudien der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.8<\/a> Dennoch beginnt sie nicht bei Null und hat sich mit den Grundbegriffen und Theorien der Migration auseinanderzusetzen, die nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt wurden: \u201aMigration\u2018, \u201aArbeitsmigration\u2018, Zwangsmigration\u2018, \u201aFlucht\u2018, \u201aAssimilation\u2018, \u201aAbsorption\u2018 und \u201aIntegration\u2018, um nur die bekanntesten zu nennen.9<\/a> Vor allem im Hinblick auf rezente Formen der Kombination von Flucht und Migration (Fluchtmigration) bed\u00fcrfen sie nach unserer \u00dcberzeugung einer forschungsbasierten Revision.<\/p>\n
Gewiss k\u00f6nnen etablierte Rahmenbegriffe wie \u201aMigration\u2018 oder \u201aGewaltmigration\u2018 weiterhin benutzt werden, um qualitativ verschiedene Ph\u00e4nomene als benachbart und mit gewissen Schnittmengen zu erfassen. Doch kann dies auch wichtige Unterschiede verwischen. So wird dem \u201aFl\u00fcchtling\u2018 im gouvernementalen Diskurs, im Streit der politischen Parteien und im Alltagsdiskurs dieselbe Pflicht zugewiesen wie dem\/der \u201aWirtschaftsmigrant*in\u2018, n\u00e4mlich sich im Aufnahmeland ehestm\u00f6glich \u201azu integrieren\u2018. Was aber unter Integration verstanden wird, bleibt unterbestimmt. Viele Politiker*innen und B\u00fcrger*innen verbinden damit die vage Vorstellung, Integration bewirke im gelingenden Fall die vollst\u00e4ndige kulturelle Absorption oder Assimilation der Zuwander*innen und Fl\u00fcchtlinge. Dieser Wunsch zieht die Annahme nach sich, dass nur eine beschr\u00e4nkte Zahl von Fl\u00fcchtlingen integriert werden k\u00f6nne. Niemand wei\u00df, wie diese Zahl zu bestimmen w\u00e4re, und neuerlich ist es die Unbestimmtheit, die der nationalistischen Agitation in die H\u00e4nde spielt. Parteien liefern sich einen Wettstreit, wer die strengere Fl\u00fcchtlings-Abwehr-Politik zu Wege bringt. Aus den Fl\u00fcchtenden werden Gegner, aus Fl\u00fcchtlings- und Asylpolitik wird Verteidigungspolitik. Das kollektiv Unbewusste befeuert Gef\u00fchle und Rhetoriken der Xenophobie, des Rassismus und Chauvinismus. Die Feindseligkeit bricht wie eh und je in \u201aunsagbaren\u2018 Witzen hervor.10<\/a> Gleichzeitig nimmt die Bereitschaft zur Militanz in \u201aVerteidigung\u2018 der staatlichen und der europ\u00e4ischen Grenzen erheblich zu. Das bei vielen B\u00fcrger*innen ungeliebte Projekt der Europ\u00e4ischen Union erh\u00e4lt unversehens neue Popularit\u00e4t als Verteidigungsb\u00fcndnis, das die Fl\u00fcchtenden noch m\u00f6glichst weit vor den eigenen Staatsgrenzen abf\u00e4ngt, interniert oder zur\u00fcckschiebt.<\/p>\n
In den letzten Jahren haben Sozial- und Geschichtswissenschaften ihre Bem\u00fchungen zur Kommunikation ihrer Forschungsprojekte und Ergebnisse deutlich erh\u00f6ht, wohl weil es gar nicht einfach ist, sich als kritische Wissenschaft in der politischen \u00d6ffentlichkeit und gegen das weiter anwachsende Rauschen der Massenmedien Geh\u00f6r zu verschaffen. 1982 wurde an der Universit\u00e4t Oxford ein Refugee Studies Centre11<\/a> eingerichtet und das Journal of Refugee Studies12<\/a> begann zu erscheinen. Mit einiger Versp\u00e4tung bildeten im deutschsprachigen Raum 2013 \u00fcber hundert Sozialwissenschaftler*innen das Netzwerk Fl\u00fcchtlingsforschung, um einander und auch ein interessiertes Publikum \u00fcber laufende Forschungen und Forschungspl\u00e4ne zu informieren.13<\/a> Das Deutsche Institut f\u00fcr Entwicklungspolitik (DIE)14<\/a> koordiniert einschl\u00e4gige Forschungsprojekte. Eine Gro\u00dftagung der Deutschen Gesellschaft f\u00fcr Soziologie wird demn\u00e4chst Probleme der rezenten qualitativen Flucht- und Migrationsforschung verhandeln.15<\/a><\/p>\n
In den Geschichtswissenschaften und ihren Vereinigungen gibt es bisher deutlich weniger vergleichbare Bem\u00fchungen. Doch zeigen die j\u00fcngsten Flucht-Geschehnisse auch hier eine gewisse Wirkung. Vor kurzem wurde die Zeitschrift f\u00fcr Fl\u00fcchtlingsforschung gegr\u00fcndet, das erste Heft ist dieser Tage erschienen.16<\/a> Zwei der vier Herausgeber*innen sind Historiker. In dem Forschungsprojekt \u201eFlucht: Forschung und Transfer\u201c, das vom deutschen Bundesministerium f\u00fcr Bildung und Forschung mit rund einer Million Euro f\u00fcr zwei Jahre finanziert wird, arbeitet ein Historiker mit. Im Dezember 2016 fand am Institut f\u00fcr Zeitgeschichte M\u00fcnchen eine gro\u00dfe Tagung zum Thema Flucht statt.<\/p>\n
Im Forum skizzieren Manfred Nowak und Antonia Walter die Durchsetzung der Menschenrechte und ihre Verbindungen mit staatlicher Fl\u00fcchtlings- und Asylpolitik. Manfred Nowak ist Professor f\u00fcr internationales Recht und Menschenrechte an der Universit\u00e4t Wien und Generalsekret\u00e4r des European Inter-University Centre for Human Rights and Democratisation (EIUC) in Venedig. Antonia Walter war bis vor kurzem Universit\u00e4tsassistentin f\u00fcr internationales Recht und Menschenrechte an der Universit\u00e4t Wien und arbeitet derzeit an ihrer Dissertation zum Europ\u00e4ischen Fl\u00fcchtlingsrecht. Wir haben Nowak und Walter eingeladen, die Leserschaft der OeZG in dieses rechts- und politikgeschichtliche Thema einzuf\u00fchren. Besonders auch die praktisch-politische Erfahrung Manfred Nowaks als UNO-Sonderberichterstatter \u00fcber Folter, der zahlreiche Fl\u00fcchtlingslager in Griechenland und anderswo besucht und bewertet hat, f\u00fchrt ihn zu seinem Schluss-Argument: Eine gouvernementale L\u00f6sung des weltweiten Problems von Flucht, Migration und Asyl werde ohne die Errichtung einer sozio\u00f6konomischen Weltordnung, die die Gleichheit aller Menschen und das Menschenrecht respektiert, nicht zu haben sein.17<\/a><\/p>\n
Arne Worm, wie Hinrichsen Soziologe und Mitglied desselben Forschungsteams an der Universit\u00e4t G\u00f6ttingen (Methodenzentrum Sozialwissenschaften) unter Leitung von Gabriele Rosenthal,\u00a0die seit vielen Jahren f\u00fcr eine qualitative Soziologie pl\u00e4diert, die st\u00e4rker historische Verl\u00e4ufe rekonstruiert,18<\/a> untersucht Migration und Flucht einer pal\u00e4stinensisch-syrischen Familie, deren Vorfahren aus dem ersten israelisch-pal\u00e4stinensischen Krieg nach Syrien geflohen waren. Viele Jahre sp\u00e4ter fliehen Angeh\u00f6rige der Familie vor den Bomben und Granaten, die das Assad-Regime auf syrische St\u00e4dte und D\u00f6rfer werfen l\u00e4sst. Sie migrieren und fl\u00fcchten \u00fcber Algerien, Marokko, die spanische Exklave Melilla und die spanische Halbinsel letztlich nach S\u00fcddeutschland, wo sie subsidi\u00e4ren Schutz erhalten.<\/p>\n
Auf ein globales Migrations-Ph\u00e4nomen soll noch kurz hingewiesen werden, da es bestimmte Merkmale mit den hier untersuchten F\u00e4llen der Fluchtmigration und der skizzierten Theorie gemeinsam hat. Schon im fr\u00fchen 20. Jahrhundert, noch ausgepr\u00e4gter aber seit den 1970er und 1980er Jahren entstand durch weitere Sch\u00fcbe sozio\u00f6konomischer Globalisierung eine transnationale und zirkul\u00e4re (auch: zirkulierende) Migration.19<\/a> Menschen aus S\u00fcdamerika, Mexiko, den Philippinen, Indien, Pakistan, Afghanistan, Myanmar u. a. L\u00e4ndern wandern aus, um anderswo Erwerbsarbeit und ein besseres Auskommen zu finden, ohne aber das \u201aklassische\u2018 Muster der Migration\u00a0\u2013 vor allem von der US-amerikanischen Migrationssoziologie im Kontext einer selektiven US-Einwanderungspolitik beschrieben und theoretisiert\u00a0\u2013 zu wiederholen. Sie wandern nicht aus mit dem Ziel, \u201af\u00fcr immer\u2018 im Zielland zu bleiben und sich in jeder Hinsicht in die Gesellschaft dieses Landes zu integrieren bzw. zu akkulturieren. Zyklisch Migrierende werden nicht kulturell absorbiert, sondern adaptieren sich an die Verh\u00e4ltnisse des Gastlandes, soweit es unbedingt n\u00f6tig ist und ihren eigenen Interessen n\u00fctzt. Dies gilt zumindest f\u00fcr die erste Generation. Viele leben in mikro- und meso-sozialen Soziet\u00e4ten, die oft ethnische Enklaven im Gastland sind. Sie bilden transnationale Netzwerke und Familiensysteme, manche Autor*innen sprechen sogar von \u201etransnationalen Identit\u00e4ten\u201c. In ihren Enklaven pflegen Chines*innen in New York, Mexikaner*innen in Kalifornien, Marokkaner*innen und Algerier*innen in Frankreich oder Deutschland oder Philippinos in der Hochseeschifffahrt und in der Meeresfischerei, Philippinas im Gesundheitsdienst europ\u00e4ischer, nordamerikanischer und asiatischer Kommunen und in zahllosen b\u00fcrgerlichen Haushalten20<\/a> ihren kulturellen Bestand an Symbolen, Familienfesten und Alltagspraktiken. Immer wieder (\u201ezyklisch\u201c oder \u201ezirkulierend\u201c) kehren sie in ihre Herkunftsl\u00e4nder und Heimatgemeinden zur\u00fcck und unterhalten \u00fcber die jeweils neuesten und tauglichsten Kommunikationsmedien enge Beziehungen zu ihren Eltern, Kindern, Verwandten, Freunden und Gemeinden im Herkunftsland. Aus den Ersparnissen errichten sie H\u00e4user in ihren Heimatorten, die halb leer stehen, solange sie zirkulierend migrieren. Mit ihren Besuchen, Geschenken und regelm\u00e4\u00dfig \u00fcberwiesenen Spenden an Kirchen, Schulen und Krankenh\u00e4user wie auch mit Geldzahlungen an Eltern und andere Verwandte wollen sie f\u00fcr sich selber einen respektierten Platz in der Heimatgemeinde sichern, bis sie am Ende ihres Berufslebens m\u00f6glicherweise f\u00fcr immer zur\u00fcckkehren.21<\/a><\/p>\n
Einige dieser Merkmale finden wir auch bei Fluchtmigrant*innen aus den Kriegsregionen des Nahen und Mittleren Ostens. Unterschiede machen das Spezifische der Fluchtmigration noch einmal deutlich. Auch Fluchtmigrant*innen schlie\u00dfen eine R\u00fcckkehr in ihre Herkunftsl\u00e4nder keineswegs aus und auch sie halten ihre Beziehungen zu Verwandten und Bekannten im Herkunftsland und in anderen Teilen der Welt aufrecht. So entsteht, was wir die Diaspora der Fluchtmigrant*innen nennen k\u00f6nnen: ein transnationales Netzwerk von Verwandten, Freunden und Bekannten mit materiellen und ideellen (auch religi\u00f6sen) und idealiter reziproken Aust\u00e4uschen von Wissen und Deutungen, Nachrichten, sozialen Zuwendungen und materiellen G\u00fctern. Die Diaspora ist die kommunikative Reproduktion einer soziokulturellen Zugeh\u00f6rigkeit. Da Gefl\u00fcchtete in westlichen Aufnahmel\u00e4ndern oft zun\u00e4chst keinen oder nur beschr\u00e4nkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben, fehlt es ihnen jedoch an Einkommen, um regelm\u00e4\u00dfig Ersparnisse, Geschenke oder Konsumartikel an die Angeh\u00f6rigen im Heimatland zu schicken. Ungewiss ist, ob und wann eine R\u00fcckkehr in das Herkunftsland oder in den Heimatort m\u00f6glich sein wird. Die oft lange anhaltende sozio\u00f6konomische Prekarisierung der Gefl\u00fcchteten unterscheidet sie von zyklisch migrierenden Menschen. Zwar k\u00f6nnte die Fluchtmigration nach dem Ende kriegerischer Handlungen oder nach einem Regimewechsel im Heimatland ihre begr\u00fcndenden Motive verlieren und das Asyl in eine endg\u00fcltige R\u00fcckkehr oder in eine zirkulierende Migration \u00fcbergehen. Doch letzteres setzt voraus, dass Fluchtmigrant*innen sp\u00e4testens in der zweiten oder dritten Generation im Aufnahmeland Erwerbsarbeit und ausreichende Einkommen finden, mit denen sie nach dem auch subjektiv h\u00f6her bewerteten Muster der zirkulierenden Migrant*innen sowohl in ihr Leben im Erwerbsland als auch in Clan- und Familiensysteme in ihren Herkunftsorten investieren. Dies w\u00e4re dann\u00a0\u2013 in konventionellen Begriffen der Migrationssoziologie gesprochen\u00a0\u2013 eine doppelte \u201einstitutionelle Integration\u201c22<\/a> und eine sozio\u00f6konomische Beteiligung an der Aufnahmegesellschaft als auch ein Transfer von sozio\u00f6konomischen Ressourcen in die Herkunftsgesellschaft.<\/p>\n
Hinter den politischen Ritualen und Inszenierungen auf der Vorderb\u00fchne der Nationalstaaten entwickeln sich global und weltregional \u00f6konomische und \u00f6kologische Wirkungszusammenh\u00e4nge, die Flucht, Vertreibung und Migration im gro\u00dfen Ma\u00dfstab ausl\u00f6sen oder f\u00f6rdern. Von Flucht bzw. Fluchtmigration, Vertreibung und politischem Asyl sind derzeit weltweit etwa 65 Millionen Menschen unmittelbar selber betroffen.23<\/a> (Die Gesamtzahl der Migrant*innen hingegen bel\u00e4uft sich weltweit auf gesch\u00e4tzte 300 Millionen.) Menschen fl\u00fcchten aus umk\u00e4mpften Zonen und aus mangelnder Versorgungssicherheit. Sie fl\u00fcchten aber auch aus den relativ \u00e4rmsten Regionen der Welt. Armut ist nicht nur wirtschaftliche Armut, sondern auch damit verbundene Bildungsarmut, der fehlende oder unzul\u00e4ngliche Zugang zu Kommunikations- und Produktions-Technologien und zu Fachwissen; auch krankmachende und lebensverk\u00fcrzende Wohn-, Arbeits- und Ern\u00e4hrungsverh\u00e4ltnisse erzeugen Armut. Armut kann Flucht und Migration \u00fcber weitere Distanzen auch behindern, die \u00c4rmsten sind oft gezwungen zu bleiben. Das gilt auch f\u00fcr Kriegsregionen wie f\u00fcr syrische St\u00e4dte und D\u00f6rfer. Der Human Development Index (HDI) misst die Qualit\u00e4t der Lebensverh\u00e4ltnisse an den Faktoren Lebenserwartung zur Zeit der Geburt, erwartete Schulzeit und durchschnittliche Anzahl der absolvierten Schuljahre sowie Bruttonationaleinkommen pro Kopf (gross national income per capita). In diesem relativ vern\u00fcnftig erstellten Index liegen die Hauptherkunftsl\u00e4nder von gefl\u00fcchteten bzw. fluchtmigrierten Menschen im letzten Drittel des Rankings, etwa zwischen den R\u00e4ngen 134 (Syrien) und 188 (Niger); f\u00fcr den vollst\u00e4ndig gescheiterten Staat Somalia liegen keine Daten vor.<\/p>\n
Fluchtmigrant*innen treffen in Staaten und Soziet\u00e4ten ein, die sich ihrer selbst derzeit alles andere als sicher sind. Oliver Nachtweih spricht\u00a0\u2013 auf den europ\u00e4ischen und nordamerikanischen Westen bezogen\u00a0\u2013 von \u201eAbstiegsgesellschaften\u201c und von Gesellschaften einer \u201eregressiven Moderne\u201c.24<\/a> Dieser Aspekt sollte in k\u00fcnftigen Untersuchungen zur Geschichte von Flucht und Asyl noch st\u00e4rker beachtet werden, gehen doch die aktuellen Feindseligkeiten gegen Gefl\u00fcchtete wie schon in fr\u00fcherer Zeit vornehmlich aus \u00c4ngsten und Aggressionen hervor. Zur Krise unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und zur Weltwirtschaftskrise um 1930 bestehen \u00c4hnlichkeiten, aber auch Unterschiede. Auff\u00e4llig ist, dass sich heute im US-amerikanischen Rust Belt, dem fr\u00fcheren Manufacturing Belt, in den Industriebrachen der ehemaligen DDR oder in den teils proletarischen Vorst\u00e4dten von Wien auff\u00e4llig viele Arbeiter*innen und kleine Angestellte und Gewerbetreibende von \u201eAusl\u00e4ndern\u201c im allgemeinen und besonders von Fluchtmigrant*innen bedroht f\u00fchlen, selbst wenn sie selber vor Jahren oder Jahrzehnten migriert sind oder ihre Eltern, Gro\u00dfeltern oder Urgro\u00dfeltern \u201eMigrationshintergrund\u201c haben. Dies motiviert sie, chauvinistischen, rassistischen und nationalistischen F\u00fchrer*innen zu folgen, die die Wiederherstellung der \u201enationalen St\u00e4rke\u201c versprechen, was u. a. die Abwehr \u201eder Fremden\u201c impliziert.<\/p>\n
Wie m\u00e4chtig die Neuerfindung des Nationalen derzeit ist, zeigt auch die Tatsache, dass einige westliche Regierungen gegen die objektiven Interessen der globalisierten Teile der Wirtschaft auftreten: Sie predigen einen Wirtschaftsnationalismus mit autorit\u00e4ren und rassistischen Z\u00fcgen.25<\/a> Offenbar finden sie daf\u00fcr die Zustimmung vieler, die es mit ihrer Erwerbsarbeit \u00fcber die Jahre zu etwas Wohlstand gebracht haben, aber nun wirtschaftliche Nachteile erleiden. Sie sehen ihre kleinen Besitzt\u00fcmer bedroht und erm\u00e4chtigen populistische F\u00fchrer*innen, Gefl\u00fcchtete ein- oder auszusperren, weil sie meinen, nur so ihren relativen Wohlstand behalten zu k\u00f6nnen. Diesen Wohlstand ausgerechnet an \u201aFl\u00fcchtlinge\u2018 zu verlieren ist keine reale oder objektive Bedrohung. Es ist eine infantile Angst und erinnert an kleinb\u00fcrgerliche und proletarisierte Anh\u00e4nger*innen des Nationalsozialismus in den 1930er Jahren.<\/p>\n
<\/a>11) Vgl. www.rsc.ox.ac.uk<\/p>\n
<\/a>13) Vgl. fl\u00fcchtlingsforschung.net<\/p>\n
<\/a>14) Vgl. https:\/\/jrf.nrw\/2016\/06\/jrf-flucht-migration-integration\/<\/p>\n
<\/a>22) Vgl. Eisenstadt, Analysis, 170.<\/p>\n
Inhaltsverzeichnis<\/a><\/p>\n
Jochen Oltmer
\nDas lange 20. Jahrhundert der Gewaltmigration<\/a><\/p>\n
Sebastian Frik
\nDie Entwicklung des subsidi\u00e4ren Schutzes. Gefl\u00fcchtete in der Europ\u00e4ischen Union bis 2004 <\/a><\/p>\n
Hendrik Hinrichsen
\nRe-Marginalisierung der pal\u00e4stinensischen Fl\u00fcchtlinge? Transformation von Wir-Bildern in der pal\u00e4stinensischen Gesellschaft im Westjordanland seit den 1970er Jahren <\/a><\/p>\n
Arne Worm
\nVerl\u00e4ufe der Fluchtmigration von Syrer*innen in die Europ\u00e4ische Union \u00fcber Ceuta und Melilla <\/a><\/p>\n
Reinhard Sieder \/ Badran Farwati
\nRebellion, Fluchtmigration und Asyl. \u00c4rzt*innen und Pharmazeut*innen in der Syrischen Revolution und im Syrischen Krieg, auf der Flucht und im Asyl in \u00d6sterreich <\/a><\/p>\n
Manfred Nowak \/ Antonia Walter
\nFlucht und Asyl in der Geschichte der Menschenrechte <\/a><\/p>\n
Waltraud Sch\u00fctz
\nThe Fr\u00f6hlich Institute, 1849-1889. Women as girls` school owners in 19th century Vienna <\/a><\/p>\n","ausblenden":false,"autorenbiographie":""},"yoast_head":"\n