Erzählen

Erzählen ist überall. Erzählen ist nirgends. Beide Sätze sind widersprüchlich und beide Sätze sind richtig.
Erzählen ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Doch in einer zunehmend ergebnisorientierten, nach marktwirtschaftlichem Erfolg strebenden Gesellschaft wird auch das „Leben“ standardisiert und ökonomisiert, effizient und effektiv gemacht. Und auch die Schule scheint in Zeiten der Output-Orientierung die Schülerinnen und Schüler vorwiegend auf dieses einseitig-eindimensionale Leben vorzubereiten.
Erzählen braucht Zeit. Doch diese ist knapp geworden. Und vielleicht sollte die Schule mehr ein Ort der Muße, der Reflexion und Selbstvergewisserung werden, indem sie der sprachlichen Entfaltung heranwachsender Menschen wieder mehr Raum und Zeit gibt, sich erzählerisch auf das eigene Geworden-Sein einzulassen.
Literarisches Erzählen hat ebenso wie alltägliches Erzählen in der Schule schon immer seinen Platz gehabt und kann im Verein mit didaktischem Geschick Bildungs- und Selbstbildungsprozesse vorantreiben. Das ist wichtig in einer Zeit, in der traditionelle Lebensmodelle an Verbindlichkeit verlieren und das Individuum zunehmend auf sich selbst gestellt seinen Möglichkeitsraum ausloten muss.
Erzählen birgt Potential für Gemeinschaft, Miteinander und Zugehörig-Sein. Denn Erzählende brauchen ein zuhörendes Gegenüber, einen verstehenden Anderen und einen geschützten Raum für die Entfaltung von Gedanken, Stimmungen und Träumen. Hat das Platz in einer Zeit, in der mehr gezählt als erzählt wird?
Anliegen des Heftes ist es, Erzählen in vielen seiner Dimensionen kaleidoskophaft aufblitzen zu lassen. Intellektuell-literaturwissenschaftliche und sinnlich-körperbezogene Zugänge erschließen dabei Erzähltes in der Hoffnung, sowohl Lehrende als auch Schülerinnen und Schüler für literarische Begegnungen zu sensibilisieren.

AUS DEM INHALT


Von der Kraft des Erzählens
Andrea Moser-Pacher, Reiner Steinweg: Die „dritte Sache“ in den menschlichen Beziehungen. Warum das mündliche Erzählen, auch in der Schule, gut tut und verändernd wirkt
Bettina Rabelhofer: Geschichten vom Ankommen und Vagabundieren. Erzählen und Identität

Von Sinn und Sinnlichkeit: Zur Kunstfertigkeit des Erzählens
Eva Gruber: Das Erzählte hören. Überlegungen zur Materialität der Stimme
Kristin Wardetzky: Eine weltweit aufblühende Kunst. Die Kraft des professionellen Erzählens in der Schule
Günther A. Höfler: An den Flüssen des Erzählens. Verstreute Beobachtungen zur jüngsten deutschsprachigen Prosa
Paul R. Portmann-Tselikas: Erzählen und Textkompetenz. Linguistische Aspekte des Erzählens
Gert Ueding: Erzähltes gehört gehört

Nicht nur für Kinder! Erzählen in der Sekundarstufe II und an der Universität
Bettina Rabelhofer, Marlies Breuss: Kafkas frühe Prosa. Literarisches Erzählen hör- und sichtbar machen. Wie Stacheltiere zu Weggefährten wurden (und trotzdem Stacheltiere blieben)
Albert Wogrolly, Claudia Benkö, Peter P. J. Rindler: Wie verstehen wir Geschichten? Narratives Verstehen. Ein medienwissenschaftliches Modell – in der Schule brauchbar?
Fritz Kubli: Erzählen im naturwissenschaftlichen Unterricht
Barbara Carli: Geschichten entlocken. Ein kleiner Methodenpool zur Förderung der mündlichen Sprachkompetenz aus dem Bereich des Improtheaters
Elisabeth Schabus-Kant: „… aber Erzählen ist ganz schön schwer.“ Mündliches Erzählen in der Sekundarstufe II

Service
Andrea Moser-Pacher, Reiner Steinweg: Literaturliste Erzählen und Erzähldidaktik


Weitere Informationen zur ide finden Sie unter: http://wwwg.uni-klu.ac.at/ide

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