„Ihr habt mir mein Land weggenommen!“ – Mit dieser Anklage im Refrain gelang es der krimtatarischen Sängerin Jamala, den in Stockholm ausgetragenen Eurovision Song Contest 2016 für die Ukraine zu gewinnen. Der Titel des Liedes, das auf Englisch und Krimtatarisch gesungen wurde, lautete schlicht „1944“. Dies war ein bis dahin nur für Eingeweihte verständlicher Hinweis auf den traumatischen Wendepunkt der jüngeren krimtatarischen Geschichte, wurde doch im Mai jenes Jahres praktisch die gesamte sich zu diesem Zeitpunkt auf der Halbinsel befindliche krimtatarische Bevölkerung durch die Sowjetmacht nach Zentralasien deportiert.1 Wie über eine ganze Reihe weiterer sowjetischer Nationalitäten in anderen Teilen der Sowjetunion (unter anderem die Tschetschen*innen im nördlichen Kaukasus oder die Nachfahr*innen deutscher Kolonist*innen im Wolga-Gebiet), hatte das stalinistische Regime ein folgenreiches Verdikt über die Krimtatar*innen ausgesprochen: Sie hätten sich der Massenkollaboration mit der nationalsozialistischen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg schuldig gemacht. Dies war zwar ein Vorwurf, der auch im Fall der muslimischen Krimbewohner*innen in dieser Totalität nicht haltbar war, wie zahlreiche Forschungen bestätigt haben,2 gleichwohl waren die Folgen für die krimtatarische Nationalität verheerend. Auch nach dem Tod Stalins 1953 und selbst nach der berühmten Geheimrede Nikita Chruščevs 1956 auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), in der unter anderem auf das Verbrechen dieser Deportationen durch Stalin hingewiesen wurde, blieb der krimtatarischen Bevölkerung für Jahrzehnte die Rückkehr in die Heimat verwehrt. Anders als für die meisten anderen von Repressionen betroffenen Nationalitäten bedeutete diese Wende in der sowjetischen Innenpolitik für sie nämlich nicht, dass sie ihre Deportationsgebiete verlassen und in ihre am Schwarzen Meer gelegene Heimat zurückkehren durfte.3 Im Verlauf der 1960er-Jahre gelang es zwar einigen wenigen, sich dort – nach offiziellen Maßstäben – illegal wieder anzusiedeln, und während der perestrojka der Gorbačev-Jahre schwoll dieser Zustrom an, doch erst nach dem Zerbrechen der Sowjetunion konnte sich eine größere Zahl von Krimtatar*innen auf den Weg in ihre Heimat machen; eine Heimat, die vielen von ihnen gänzlich unbekannt war, da sie diese nur aus den Erzählungen der Älteren kannten. Vor der Annexion im Frühjahr 2014 betrug der krimtatarische Anteil an der Gesamtbevölkerung schließlich circa zwölf Prozent.
Ohne Zweifel markieren die Ereignisse des Mai 1944 den absoluten Tiefpunkt in den über Jahrhunderte immer wieder konfrontativen krimtatarisch-russischen Beziehungen. Diese sollten dennoch nicht als fortgesetzte Gewaltgeschichte gelesen werden, gab es über die Jahrhunderte im russisch-krimtatarischen Kulturkontakt doch immer wieder Phasen der Kooperation – etwa im Kontext von Bündnissen in der frühen Neuzeit oder bei der Ausgestaltung gemeinsamer Lebenswelten in der Zarenzeit.4 Auch diesen Aspekt zu beleuchten, ist ein Ziel dieses Bandes.
Lange Zeit war die Krim im westlichen Europa selbst in Kreisen der historisch arbeitenden Zunft ein wenig bekanntes Gebiet, fast eine Terra incognita. Jamalas Auftritt in Stockholm lenkte jedoch zumindest für einen kurzen Augenblick die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit auf das Schicksal der Krimtatar*innen, die sich seit der Annexion der Halbinsel durch Russland im Frühjahr 2014 wieder vermehrt staatlichen Repressionen ausgesetzt sehen. Bereits im Vorfeld des internationalen Gesangswettbewerbes erfuhr das Publikum, dass heftig darüber diskutiert worden war, ob das Lied überhaupt den Vorgaben der Veranstaltung entspreche, da dort politische Stellungnahmen ausdrücklich nicht zugelassen sind. Letztendlich wurde aber (gegen heftige Proteste seitens der Russländischen Föderation) entschieden, dass das Lied von einem historischen Faktum handle und keine politische Manifestation darstelle. Auch das Team der Sängerin beteuerte, dass der Text lediglich die Geschichte von Jamalas 1944 von der Krim vertriebener Urgroßmutter thematisiere und somit keine Anspielung auf aktuelle Ereignisse sei.5
Der Sieg Jamalas belegt aber ebenso wie der Protest Russlands dagegen, mit wie viel Emotion die Geschichte der Krim und das krimtatarisch-russische Verhältnis verbunden sind. Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, wem die Krim eigentlich ‚gehört‘: In seiner Ansprache an die Föderale Versammlung vom Dezember 2014 erklärte der russische Präsident Vladimir Putin beispielsweise, die Krim habe für Russland dieselbe Bedeutung wie der Tempelberg in Jerusalem für das Judentum und den Islam. Seit Großfürst Vladimir hier im Jahre 988 die Taufe empfangen habe, sei die Halbinsel für Russland ein „heiliger Boden“.6 Mit dieser Lesart sprach er einer überwältigenden Mehrheit der russischen Bevölkerung aus der Seele, wurde die 1783 vom Zarenreich annektierte Halbinsel doch seit dem 19. Jahrhundert zu einem besonderen, und in jedem Fall ‚russischen‘ Territorium stilisiert. Die angebliche Taufe Vladimirs, die russischen Opfer im Krimkrieg (1853–1856) oder auch einfach nur die Schönheit der Landschaft bildeten seither die ideologische Basis für diese reale und mentale Vereinnahmung.7 Somit gehört es zu den tiefempfundenen ‚Wahrheiten‘ vieler Russinnen und Russen, dass die Krim naš („unser“) sei. Die Sakralisierung der Krim durch den russischen Präsidenten kann aber durchaus auch als Antwort auf den krimtatarischen Standpunkt gesehen werden, demzufolge die Halbinsel ebenfalls ein unveräußerliches nationales Territorium ist. Denn gerade während der Jahrzehnte der Verbannung wurde diese zu einer Art Gelobtem Land für die tatarische Bevölkerung, und die Heimkehr in das mythisch aufgeladene Land der Vorfahr*innen wurde für eine glückliche Zukunft herbeigesehnt. Während ein bedeutender Teil der Krimtatar*innen seit den späten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts tatsächlich auf die Halbinsel zurückkehren konnte, ist das Gebiet seit der Annexion durch Russland nun nicht nur für wichtige Vertreter*innen der krimtatarischen Nationalbewegung wieder unerreichbar,8 sondern auch für die ukrainische Politik zu einem verlorenen Territorium geworden. An der Frage, ob dessen Rückgewinnung unabdingbar für die Integrität des ukrainischen Staates sei und somit letztlich eine Frage der nationalen Ehre, scheiden sich die Geister. Ungeachtet der Anerkennung der Tatsache, dass die Halbinsel für die Ukraine wohl auf lange Zeit verloren ist, nutzten ihre führenden Politiker die Freude über Jamalas Sieg, um daran zu erinnern, dass die Krim ein unveräußerlicher Teil der Ukraine sei.9
Die Halbinsel Krim, die völkerrechtlich ein Teil der Ukraine ist, seit dem Frühjahr 2014 aber de facto von Russland kontrolliert wird, ist auch zu Beginn des Jahres 2017 noch einer der großen geopolitischen Brennpunkte auf der Welt. Ihre Annexion durch Russland, welche Moskau mittels einer international höchst umstrittenen Volksabstimmung zu legitimieren suchte, war der Auslöser für die Wirtschaftssanktionen der Europäischen Union und der USA. Auch wenn diese Strafmaßnahmen mehrfach verlängert wurden, so wurde (und wird) doch auch ihre Aufhebung debattiert, um ein Entgegenkommen Russlands im Syrien-Konflikt zu erreichen.10 Doch während das Gebiet der Krim und ihr Status weiterhin zumindest sporadisch im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit stehen, finden die krimtatarische Bevölkerung und ihr Schicksal weit weniger Beachtung – woran auch Jamalas Sieg beim Song Contest nichts ändern konnte. Der vorliegende Band will zumindest innerhalb der historischen Wissenschaften einen Beitrag dazu leisten, dass sich dies ändert.
Obgleich das Krim-Khanat seit seiner Etablierung im Verlauf des 15. Jahrhunderts ein wesentlicher Bestandteil der frühneuzeitlichen Staatenwelt Ost- und Ostmitteleuropas war, hat sich die Historiographie vergleichsweise wenig mit der Geschichte seiner der turko-tatarischen Sprachgruppe zugehörigen Titularnation befasst.11 Dies liegt nicht unwesentlich an dem lange Zeit vorherrschenden Primat der Nationalgeschichtsschreibung, welche Nationalitäten und Regionen vernachlässigte, die es im Verlauf des sogenannten langen 19. Jahrhunderts nicht zu einer Eigenstaatlichkeit ‚gebracht‘ hatten. Vergleichbar mit der viel größeren Ukraine, die erst 1991 dauerhaft ihre Unabhängigkeit erreichen konnte und in den letzten Jahrzehnten eine so wichtige Rolle für die Geschicke der Halbinsel spielte, war auch die Krim nur über kurze Phasen eine eigenständige politische Entität gewesen – nämlich im 15. Jahrhundert, ehe das Krim-Khanat 1478 die Oberhoheit des Osmanischen Reiches anerkennen musste (freilich unter Beibehaltung eines nicht unerheblichen politischen Spielraums),12 sowie erneut in Folge der russischen Revolutionen des Jahres 1917 und des sich anschließenden Bürgerkriegs.
In den letzten Jahren hat sich das wissenschaftliche Interesse von der großen, auf den Nationalstaat bezogenen Meistererzählung ab- und der transnationalen beziehungsweise imperialen Geschichte zugewandt.13 Davon hat die Forschung über Krimtatar*innen profitiert, da sich krimtatarische Geschichte seit dem 15. Jahrhundert zumeist im Kontext von Imperien vollzog, nämlich dem Osmanischen Reich, dem Russländischen Imperium sowie der Sowjetunion. Zudem wird die Halbinsel Krim zunehmend im Zusammenhang mit dem nun auch als historische Mesoregion verstandenen Schwarzmeerraum behandelt,14 wie sich etwa an den auch außerhalb der Wissenschaft rezipierten Werken von Neal Ascherson und Charles King ablesen lässt.15 Wenn in solchen Arbeiten naturgemäß auch krimtatarische Geschichte behandelt wird, so bleibt die Forschung zu dieser Gruppe an sich ein verhältnismäßig kleines Feld, welches zudem zwischen Disziplinen, Sprachen und Forschungstraditionen aufgespalten ist. Osteuropa-Historiker*innen und Orientalist*innen arbeiten auch im Fall der Krim oft neben- statt miteinander, zum Teil sogar ohne die jeweils anderen Quellen und Werke zu kennen. Ein weiteres Problem kommt hinzu, können doch beileibe nicht alle Forscher*innen (und die Herausgeber*innen dieses Bandes nehmen sich da nicht aus) das Thema in seiner ganzen sprachlichen Dimension erfassen, wozu sowohl russische, polnische als auch tatarische und osmanische Quellen zu lesen wären, wobei vor allem Orientalist*innen aus Ostmitteleuropa mit ihren Arbeiten zur frühneuzeitlichen Welt des nördlichen Schwarzmeerraumes als rühmliche Ausnahmen zu nennen sind.16
Vor dem Zerfall der Sowjetunion wurde in der westlichen Welt durchaus auch zu den Krimtatar*innen gearbeitet, neben Alan Fisher sind die Arbeiten Alexandre Bennigsens17 oder Edward Lazzerinis zu nennen.18 Selbst wenn diese und weitere, hier nicht einzeln aufgeführte Autorinnen und Autoren hervorragende, heute noch als grundlegend geltende Werke zur Geschichte der Krimtatar*innen vorgelegt haben, so standen diese Forschungen zumindest implizit auch unter politischen Vorzeichen, da damit auch die mögliche „Bedrohung“ des sowjetischen Vielvölkerimperiums durch seine muslimischen Nationalitäten wissenschaftlich ausgelotet werden sollte, wie Alexandre Bennigsen und Marie Broxup recht unverblümt in einer ihrer Arbeiten schon im Titel ankündigten.19 In jedem Fall hatte (und hat!) die wissenschaftliche Forschung zur Krim von vornherein eine eminente politische Bedeutung. So gibt es daher häufig größere Überschneidungen mit politischem Aktivismus als in manchen anderen Forschungsfeldern.
Der vorliegende Band geht auf einen Workshop zurück, der auf Initiative Hüseyin I. Çiçeks im Jänner 2015 an der Universität Wien stattfand und von ihm und Kerstin S. Jobst gemeinsam organisiert wurde.20 Das Themenheft hat es sich ebenso wie der damalige Wiener Workshop zur Aufgabe gemacht, der disziplinären Spaltung in der Forschung zu den Krimtatar*innen ein Stück weit entgegenzuwirken, indem es Autorinnen und Autoren zusammenbringt, die im weitesten Sinne im deutschsprachigen Umfeld wirken beziehungsweise mit der deutschsprachigen academia in Kontakt stehen und die sonst durch Grenzen zwischen Fachrichtungen, Sprach- und Wissenschaftsräumen sowie Herangehensweisen voneinander getrennt sind. An dieser Publikation haben daher Forscherinnen und Forscher mitgewirkt, die ihre wissenschaftliche Heimat im deutschen, türkischen und russisch beziehungsweise polnischen Sprachraum haben. Sie kommen aus unterschiedlichen Disziplinen – darunter die Politikwissenschaft, die Osteuropäische Geschichte, aber auch die philologisch ausgerichtete Turkologie. Und schließlich haben sie auch ein ganz unterschiedliches Selbstverständnis: Während manche ihre Aufgabe in der rein akademischen Forschung sehen, haben sich andere darüber hinaus dem politischen Engagement für die krimtatarische Sache verschrieben. Diese Heterogenität der Ansätze der Autorinnen und Autoren spiegelt sich auch in diesem Themenheft wider. Bei der Herausgabe wurde ausdrücklich darauf verzichtet, eine gemeinsame Fragestellung, eine gemeinsame Theorie oder eine gemeinsame These vorzugeben, an der sich alle Beiträge zu orientieren hätten. Unserer Meinung nach ist es nicht zielführend, das kleine und zugleich so vielfältige Forschungsfeld über Krimtatar*innen in ein allzu enges theoretisches oder methodisches Korsett zu schnüren. Vielmehr möchten wir einen Überblick darüber geben, wie breit gefächert die aktuellen Forschungen und Meinungen derzeit sind. Auf diese Weise soll dieses Themenheft dazu beitragen, in der fragmentierten Forschung zu den Krimtatar*innen ein gemeinsames Gespräch (nicht nur im übertragenen Sinne) zu initiieren.
Die Vielfalt der disziplinären Zugänge ist bereits bei den Beiträgen, die sich mit der frühneuzeitlichen Geschichte des Krim-Khanats beschäftigen, deutlich sichtbar. Den Einstieg macht der Osteuropa-Historiker Clemens Pausz. In seinem Aufsatz nähert er sich den Krimtatar*innen über ihre Nachbarn und Gegenspieler, die Kosaken-Verbände, an. Pausz zeigt den Einfluss auf, den das Krim-Khanat auf die Entwicklung der Kosaken-Gemeinschaften in den Steppengebieten nördlich des Schwarzen Meeres ausübte. Die Krimtatar*innen dienten den Kosak*innen nicht nur als Vorbild für ihre Lebens- und Wirtschaftsweise, sondern verhalfen ihnen indirekt auch zu größerer internationaler Bedeutung. Denn im Kontext der sogenannten Türkenkriege loteten sowohl der Heilige Stuhl als auch der kaiserliche Hof in Wien Möglichkeiten aus, die Kosaken als Verbündete zu gewinnen, um so das kriegerische Potential des Krim-Khanats zu minimieren. Caspar Hillebrand als Turkologe und Übersetzer hingegen wendet sich der Krim von Süden her zu. In seinem Beitrag untersucht er die Darstellung der Krim durch den berühmten osmanischen Reisenden Evliya Çelebi. Dieser hatte die Halbinsel Mitte des 17. Jahrhunderts zweimal besucht, doch die Passagen seines zehnbändigen Lebens- und Reiseberichts, die diese Stationen seiner Reise behandeln, wurden bisher noch nicht in eine westeuropäische Sprache übersetzt. Hillebrand zeigt nun, dass Evliyas Blick auf das Krim-Khanat keineswegs von hauptstädtischer Arroganz gegenüber dem kleinen Vasallen des Osmanischen Reichs geprägt war, sondern dass er durchaus Wertschätzung für die Giray-Khane ausdrückte, deren Verbundenheit mit den Osmanen er betonte. Der dritte frühneuzeitliche Beitrag in diesem Heft stammt von dem Turkologen Mieste Hotopp-Riecke, der die mitteleuropäische Dimension der krimtatarischen Vergangenheit betont. Hotopp-Riecke untersucht die Geschichte der preußisch-krimtatarischen Beziehungen und geht dabei nicht nur auf stereotype Darstellungen der Tatar*innen in der deutschsprachigen Belletristik ein, sondern zeigt auch, dass das Krim-Khanat bereits im 17. Jahrhundert eine Rolle in den preußischen Großmachtbestrebungen spielte, und dass es unter Friedrich II. Versuche gab, krimtatarische Soldaten und Siedler*innen anzuwerben. Hotopp-Rieckes Aufsatz trägt so dazu bei, das bisher dominierende Bild der mitteleuropäisch-tatarischen Konfliktgeschichte zu relativieren.
Die Osteuropa-Historikerin Kerstin S. Jobst untersucht in ihrem Beitrag die krimtatarische Geschichte unter russischer und sowjetischer Herrschaft bis zur Deportation der Krimtatar*innen 1944. Sie fragt dabei, inwiefern die im krimtatarischen Diskurs evidenten Zuschreibungen eines „Goldenen“ respektive eines „Dunklen Zeitalters“ historisch haltbar sind. Anstatt die gesamte Geschichte nur aus dem Fluchtpunkt 1944 heraus zu betrachten, plädiert sie für eine differenzierte Sichtweise, die sowohl den Phasen der Konfrontation als auch denen der Kohabitation zwischen den krimtatarischen und den russischen Teilen der Bevölkerung Beachtung schenkt. Einer Zentralfigur des krimtatarischen Geisteslebens im späten 19. Jahrhundert widmet sich der Osteuropa-Historiker Ulrich Hofmeister: Er untersucht die russischen Schriften des bedeutenden krimtatarischen Reformers Ismail Gasprinskij (krimtatarisch İsmail Bey Gaspiralı). Anhand dessen Darstellung der zentralasiatischen Gebiete des Zarenreichs wird deutlich, dass Gasprinskij seinen Einsatz für die krimtatarische Sache als Teil einer russisch-islamischen Selbstzivilisierung präsentierte. Darin, so Hofmeister, zeigt sich die Vielschichtigkeit des russisch-krimtatarischen Verhältnisses, für das dichotomische Modelle wie ‚Kolonialismus‘ oder ‚Orientalismus‘ zu kurz greifen.
Der Beitrag des Historikers und Völkerrechtsspezialisten Zaur Gasimov leitet in die Zeit nach 1917 über. Er stellt das Archiv der Brüder İsmail und İbrahim Otar vor, zweier führender Vertreter des krimtatarischen Exils in Istanbul. Die Bibliothek und die Korrespondenzen der beiden belegen die engen Verbindungen krimtatarischer Exil-Aktivist*innen in der Türkei, in Polen und in Rumänien während des 20. Jahrhunderts. Das Netzwerk der Gebrüder Otar umfasste aber auch Kontakte in Deutschland (vor und nach 1945) sowie im Nahen Osten. In einem abschließenden Beitrag beleuchtet der Politikwissenschaftler Martin Malek schließlich die widersprüchlichen Entwicklungen seit dem Ende der Sowjetunion bis in die unmittelbare Gegenwart. Ab den späten 1980er-Jahren war es den Krimtatar*innen erlaubt, auf die Halbinsel zurückzukehren. Doch die Rückkehr stellte sich als schwieriger heraus, als es viele von ihnen erwartet hatten. Trotz der offiziellen Unterstützung durch die nun unabhängige Ukraine stießen die Rückkehrer*innen auf den Widerstand der russisch dominierten Lokal- und Regionalverwaltung. Angesichts der russischen Annexion der Krim 2014 und des Drucks, dem Krimtatar*innen nun ausgesetzt sind und der von Malek ausführlich dargelegt wird, ist davon auszugehen, dass die Rückkehrbewegung vorerst an ihr Ende gekommen ist.
Das „Forum“ dieses Heftes wirft zwei neue Schlaglichter auf die krimtatarische Geschichte. Die Osteuropa-Historikerin Iskra Schwarcz stellt ein Dokument aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien vor, das sie als die Übersetzung eines Briefes aus dem Jahr 1678 identifiziert. Darin lässt ein geheimer Informant dem Herrscher eines der Donaufürstentümer Informationen über die strategischen Pläne des Krim-Khans und die Dislokation verschiedener tatarischer Horden zukommen. Der Brief ermöglicht einen Einblick in die Stimmung und die Sichtweise der krimtatarischen Führung zu einem Zeitpunkt, als sich die Machtverhältnisse im östlichen Europa gerade deutlich verschoben.
Der Deportation der Krimtatar*innen unter Stalin sowie ihrer literarischen Verarbeitung widmet sich der gemeinsame Beitrag von Swetlana Czerwonnaja und Martin Malek, der wegen seiner besonderen Herangehensweise ebenfalls im „Forum“ platziert wurde. Die Ethnologin und der Politikwissenschaftler zeigen, wie in krimtatarischen literarischen Werken selbst unter den Bedingungen der sowjetischen Zensur die Deportation zumindest in Andeutungen thematisiert wurde, sodass diejenigen, die verstehen wollten, verstehen konnten. Erst seit der Ära von perestrojka und glasnost’ ist auch in der Literatur eine offenere Auseinandersetzung mit der Deportation möglich.
Die krimtatarische Geschichte wird in diesem Themenheft also aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet. Neben krimtatarischen Akteur*innen selbst kommen auch ukrainische Kosaken, preußische Könige, österreichische Gesandte, polnische Wissenschaftlerinnen, zentralasiatische Khane, russische Gouverneure, osmanische Reisende und viele andere ‚zu Wort‘. Diese Vielfalt an Akteur*innen und Perspektiven entspricht der Vielfalt an Forschungsrichtungen, die sich mit der Krim beschäftigen. Nicht zuletzt spiegelt sich diese Heterogenität auch in der Sprache und in der Schrift wider: Die krimtatarische Sprache wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts mit mindestens drei verschiedenen Alphabeten wiedergegeben, und für zahlreiche Orts- und Personennamen existieren in den unterschiedlichen Sprachen mehrere Versionen.21 Angesichts dieser Vielfalt wurde bei der Herausgabe des Themenhefts auf eine einheitliche Transliteration verzichtet, da dies unweigerlich bedeutet hätte, eine disziplinäre oder sprachliche Perspektive zu privilegieren und über die anderen zu stellen. Stattdessen greifen die einzelnen Autor*innen auf diejenigen Transliterationen und Schreibweisen zurück, die in ihrer eigenen Forschungstradition etabliert sind. Wir sind davon überzeugt, dass diese Vielstimmigkeit die angemessenste Form ist, der krimtatarischen Geschichte zu begegnen.
Die hier vorliegenden Aufsätze wie auch die neue Webseite www.krimtataren.eu sind ein Resultat der Wiener Tagung von 2015 und werden, so steht zu hoffen, interessierten Kolleg*innen und Fachfremden einen Einblick in aktuelle Forschungen zu krimtatarischen Themen geben.
Ulrich Hofmeister, Wien
Kerstin S. Jobst, Wien
Anmerkungen
1) Diese betrug zum Zeitpunkt der Deportation insgesamt ca. 220.000 Menschen. Die gut 20.000 Männer, die in der sowjetischen Armee dienten, befanden sich im Frühjahr 1944 mehrheitlich nicht auf der Krim.
2) Vgl. etwa Norman Naimark, Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth-Century Europe, Cambridge/Mass./London 2001; J. Otto Pohl, Ethnic Cleansing in the USSR, 1937–1949, Westport 1999; Alexander Nekrich, The Punished Peoples. The Deportation and Fate of Soviet Minorities at the End of the Second World War, New York 1978; Deportationen in Stalins Sowjetunion. Das Schicksal der Russlanddeutschen und anderer Nationalitäten, Sonderheft Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte, Neue Folge 21 (2012). Alle Werke befassen sich auch mit dem krimtatarischen Fall.
3) Von den zahlreichen deportierten Völkern teilten nur die Deutschen aus der ehemaligen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen sowie die turksprachigen Mescheten, die bis 1944 im Gebiet des heutigen Südgeorgiens siedelten, dieses Schicksal.
4) Vgl. Dariusz Kołodziejczyk, Das Krimkhanat als Gleichgewichtsfaktor in Osteuropa (17.–18. Jahrhundert), in: Denise Klein, Hg., The Crimean Khanate between East and West (15th–18th Century), Wiesbaden 2012, 47–58.
5) Ukraine gewinnt ESC mit Lied über Vertreibung, in: Zeit Online (15.5.2016), http://www.zeit.de/kultur/musik/2016-05/ukraine-gewinnt-den-eurovision-song-contest-deutschland-verliert (13.7.2016); Krimtatarin Jamala darf mit „1944“ starten, in: Eurovision.de (11.3.2016), http://www.eurovision.de/news/ESC-2016-Jamala-startet-fuer-Ukraine-mit-1944,ukraine656.html (13.7.2016).
6) Vladimir Putin, Poslanie Prezidenta Federal’nomu Sobraniju 4 dekabrja 2014 goda, http://www.kremlin.ru/events/president/news/47173 (13.7.2016).
7) Vgl. hierzu grundlegend Kerstin S. Jobst, Die Perle des Imperiums. Der russische Krimdiskurs im Zarenreich, Konstanz 2007.
8) Standoff As Crimean Tatar Leader Again Denied Entry Into Crimea, in: Radio Free Europe/Radio Liberty (3.5.2014), http://www.rferl.org/content/standoff-as-crimean-tatar-leader-again-denied-entry-into-crimea/25371965.html (13.7.2016).
9) So etwa Pavlo Klimkin, mittlerweile Außenminister der Ukraine, auf Twitter. Siehe https://twitter.com/PavloKlimkin/status/731616497899085824 (13.7.2016).
10) Fredrik Wesslau, Why Non-Recognition Matters in Crimea, in: European Council on Foreign Relations (18.3.2016), http://www.ecfr.eu/article/commentary_why_non_recognition_matters_in_crimea6043 (13.7.2016).
11) Als wichtige Ausnahmen seien u.a. genannt: der Doyen der Orientalistik im Habsburgerreich Joseph von Hammer-Purgstall, Geschichte der Chane der Krim unter osmanischer Herrschaft vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des 18. Jahrhundert. Als Anhang zur Geschichte des Osmanischen Reichs zusammengetragen aus türkischen Quellen, mit Literatur-Übersetzungen und Anmerkungen, mit der Zugabe eines Gasel von Schahingerai, Türkisch und Deutsch, St. Leonards/Amsterdam 1970 (Neudruck der Ausgabe Wien 1856); V. D. Smirnov, Krymskoe Chanstvo pod verchovenstvom Otomanskoj Porty do načala XVIII veka [Das Krim-Chanat unter der Herrschaft der Osmanischen Pforte bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts], Sankt-Peterburg 1887; Alan W. Fisher, The Crimean Tatars, Stanford/Calif. 1978; V. E. Vozgrin, Istoričeskie sud’by Krymskich Tatar [Die historischen Geschicke der Krimtataren], Moskva 1992; Brian Glyn Williams, The Crimean Tatars. The Diaspora Experience and the Forging of a Nation, Leiden/Boston/Köln 2001.
12) Gheorghe Ionan Brătianu, La Mere Noire. Des origines á la conquête ottomane, München 1969.
13) Vgl. hierzu im Überblick Kerstin S. Jobst/Julia Obertreis/Ricarda Vulpius, Imperiumsforschung in der Osteuropäischen Geschichte. Die Habsburgermonarchie, das Russländische Reich und die Sowjetunion, in: Peter Haslinger, Hg., Ostmitteleuropa transnational. Sonderheft der Zeitschrift Comparativ 18/2 (2008), 27–56.
14) Vgl. dazu Stefan Troebst, Le Monde Méditerranéen – Südosteuropa – Black Sea World. Geschichtsregionen im Süden Europas, in: ders., Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa in Europa, Stuttgart 2013, 405–418.
15) Neal Ascherson, Schwarzes Meer, Berlin 1996; Charles King, The Black Sea. A History, Oxford 2004.
16) Wir verweisen hier stellvertretend auf die Arbeiten István Vásárys (u.a. Turks, Tatars and Russians in the 13th–16th Centuries, Aldershot/Burlington 2007) und Dariusz Kołodziejczyks (u.a. The Crimean Khanate and Poland-Lithuania. International Diplomacy on the European Periphery 15th–18th Century. A Study of Peace Treaties Followed by Annotated Documents, Leiden 2011).
17) Alexandre Bennigsen/Chantal Lemercier-Quelquejay, La presse et le mouvement national chez les Musulmans de Russie avant 1920, Paris/Den Haag 1964.
18) Edward L. Lazzerini, Ismail Bey Gasprinskii and Muslim Modernism in Russia, Ph.D. Diss., University of Washington, Seattle 1973.
19) Alexandre Bennigsen/Marie Broxup, The Islamic Threat to the Soviet State, New York 1983.
20) Siehe den Tagungsbericht: Krimtataren in Geschichte und Gegenwart, 29.1.2015–30.1.2015 Wien, in: H-Soz-Kult (11.6.2015), http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6018 (13.7.2016).
21) Siehe Ingeborg Baldauf, Schriftreform und Schriftwechsel bei den muslimischen Rußland- und Sowjettürken (1850–1937). Ein Symptom ideengeschichtlicher und kulturpolitischer Entwicklungen, Budapest 1993.
Clemens Pausz
Das Krim-Khanat und der Aufstieg des Zaporoger Kosakentums. Erich Lassotas Mission im diplomatischen Kontext
Caspar Hillebrand
Evliya Çelebis Krimbericht. Hintergrund, Sprache, Erzählweise
Mieste Hotopp-Riecke
Tatarisch-preußische Interferenzen im 17. und 18. Jahrhundert. Eine Beziehungsgeschichte
Kerstin S. Jobst
‚Dunkle‘ und ‚Goldene‘ Zeiten. Die krimtatarische Bevölkerung unter zarischer und sowjetischer Herrschaft bis 1941
Ulrich Hofmeister
Ein Krimtatare in Zentralasien. Ismail Gasprinskij, der Orientalismus und das Zarenreich
Zaur Gasimov
Krimtatarische Exil-Netzwerke zwischen Osteuropa und dem Nahen Osten
Martin Malek
Die krimtatarische Bevölkerung ab 1991. Von der Repatriierung zur russländischen Besatzung
Iskra Schwarcz
Das Krim-Khanat zwischen Konstantinopel, Wien und Moskau. Edition eines Dokuments
Swetlana Czerwonnaja/Martin Malek
Literarische Verarbeitungen der Deportation der krimtatarischen Bevölkerung Eine ‚vergessene‘ Quelle der Geschichtsforschung
Nathaniel Reul
Resurrection and Revolution. Austro-Catholicism, German Nationalism, and National Socialism in Slovenia (1933-1941)
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