"Eine Diskussion nachzuzeichnen, die von der aktuellen Forschung inzwischen ad acta gelegt worden ist, und Konflikte auszugraben, die eigentlich erledigt sind, hat immer etwas Beckmesserisches. Tote Hunde tritt man nicht".1 So schreibt die Volkskundlerin Carola Lipp 2001 in ihrem Beitrag über "Schwierigkeiten mit der Volkskultur", die sich ihrem Fach in besonderer Weise stellen. Heute, 15 Jahre später, ist der Volkskulturbegriff alles andere als ein toter Hund, auch wenn sich die akademische Disziplin Volkskunde vielerorts längst umbenannt hat – so etwa in Innsbruck und Wien in ‚Europäische Ethnologie‘, in Graz in ‚Volkskunde/Kulturanthropologie‘. Besonders im öffentlichen Diskurs scheint ‚Volkskultur‘ so präsent und populär wie selten; ‚ethnokulturelle‘ Semantiken und Inszenierungen sind en vogue – gerade hierzulande. In Österreich unterhält jedes Bundesland eine eigene Volkskulturabteilung, die ‚gelebte Tradition‘ als Event und regionalen Markenartikel positioniert. Regelmäßig finden hierzu Feste statt, wie etwa in Oberösterreich am 13. und 14. Juni 2015 in der Marktgemeinde St. Wolfgang, bei dem die derzeit 21 von der UNESCO zertifizierten oberösterreichischen ‚Volkskulturschätze‘ präsentiert und gefeiert wurden – vom Aberseer Schleuniger bis zu den Wirlinger Bollerschützen. Und auch auf dem Rathausplatz in Wien gibt es regelmäßig ‚Volkskulturelles‘ zu erleben, wie etwa seit 1996 jährlich im April das Steiermarkdorf, das ‚traditionelle Frühlingsfest der Steirer‘, das auch in der Bundeshauptstadt zelebriert wird und längst nicht nur Hinzugezogene aus der Steiermark anlockt. Fernsehsender und Zeitschriftenmagazine wie Servus oder WOMAN Dirndl haben Hochkonjunktur und präsentieren ein buntes Gemisch aus Informationen zu Handarbeiten und Natur, Landschaften und Lebensweisen, Blumen- und Kräuterwissen oder Geheimtipps für Garten und Küche. Zugleich sind volkskulturelle Repräsentationen in vielen Fällen von Herkunftsfragen und regionalen Identifikationsfolien losgelöst: Trachten boomen mehr denn je – auch in der Stadt und fernab der Alpen – und werden längst nicht nur von Steirerinnen und Steirern oder Münchnerinnen und Münchnern getragen. Im Gegenteil fungieren Dirndl und Lederhose vielfach als Accessoire und frei flottierendes ästhetisches Zeichen in urbanen Erlebnissphären.
Einen wichtigen Kontext dieser Erscheinungen stellt zweifelsohne der institutionalisierte Prozess der fortschreitenden ‚Heritagisierung‘ regionaler Kultur dar, der insbesondere von der UNESCO vorangetrieben wird und in dem auch die Kulturwissenschaften gefragt sind. "Unsere Volkskultur ist ein Gütesiegel. Sie macht unser Land unverwechselbar",2 meinte der oberösterreichische Landeshauptmann Josef Pühringer bei einem Volkskulturfest 2015 und unterstrich damit den genannten Trend.3 Im Zeichen des "immateriellen Kulturerbes" gerät international auch das, was unter "volkskulturellen Traditionsbeständen" subsumiert wird, neu in Bewegung: "Tradierte Praktiken werden nicht mehr als antiquarische Zeitkapseln verstanden, sondern als dynamisches Vermächtnis, sind nicht länger in Bernstein, sondern als Palimpsest aufgehoben, dem immer wieder neue Überschreibungen hinzugefügt werden".4 Auch im kulturpolitischen Diskurs ist ‚Volkskultur‘ also kein Fall allein fürs Museum mehr, sondern ein komplexes Handlungsfeld, auf dem Vorstellungen von – wie auch immer ‚traditioneller‘ – Kultur stets neu ausgehandelt werden. Dabei sind die Übergänge zwischen ‚traditioneller Volkskultur‘ und populärer Kultur in einem weiten Sinne fließend; ‚Volkskultur‘ erweist sich als Zuschreibung, deren Spezifik sich nur aus ihrer Positionierung im gesamten Feld historischer wie zeitgenössischer Populärkultur heraus begreifen lässt.
Im Hinblick auf die rezenten Entwicklungen, aber auch auf die noch unabgeschlossene wissens- und wissenschaftsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Volkskultur-Konzept in Europäischer Ethnologie/Volkskunde, Sozialgeschichte und Regionalforschung scheint es dringlich, die Diskussion um ‚Volkskultur‘ zu aktualisieren und weiterzuführen. Wenn wir den vorliegenden Band "Volkskultur" 2.0 betiteln, präsentieren wir die aktuelle Konjunktur des Themas in Gesellschaft und Wissenschaft nicht als ‚Neuauflage‘, sondern als anders gelagert. "2.0" führt in die Gegenwart, das digitale Zeitalter und seine Formen der Inszenierung und impliziert keinen Gegensatz zu einer vorgeblich abgebildeten Tradition. Der vorliegende Band möchte Ansätze aus dem Fach Europäische Ethnologie, das sich in besonderem Maße für diese Thematik zuständig sieht bzw. gesellschaftlich weiterhin für zuständig erklärt wird, präsentieren und sie für interdisziplinäre Diskurszusammenhänge öffnen. Denn nicht nur in der Gesellschaft ist ein regelrechter Boom der ‚Volkskultur‘ zu verzeichnen, auch in der Wissenschaft ist eine neue Aufmerksamkeit für das Thema zu beobachten. Gerade unter jüngeren Kolleginnen und Kollegen im Fach Europäische Ethnologie zeigt sich eine rege Aufmerksamkeit für Fragen der ‚Volkskultur‘, der populären und popularen Kultur, die sich in Forschungsvorhaben, Institutionalisierungen von Fachkommissionen und Tagungen niederschlägt. Der vorliegende Band möchte Einblicke in neueste Forschungen und Ansätze aus diesem Feld bieten, die einen auffälligen Perspektivenwechsel gegenüber früheren Forschungen zum Thema erkennen lassen. Es sei für den Moment dahingestellt, ob die neuen Zugänge und Perspektiven zum Thema ‚Volkskultur‘ Ausdruck eines Generationenwechsels innerhalb der akademischen Disziplin Europäische Ethnologie sind; in jedem Fall artikuliert sich im Wandel der wissenschaftlichen Paradigmen eine grundlegende gesellschaftliche Transformation, die von Forschungen zum Thema stets mitzureflektieren ist.
Im Themenfeld ‚Volkskultur‘ verschränken sich Wissenschaft und Gesellschaft in besonderer Weise: Längst stoßen die Kulturwissenschaften, allen voran die Europäische Ethnologie, nicht mehr nur auf die eigenen terminologischen Altlasten, wenn von ‚Volkskultur‘ die Rede ist; vielmehr sehen sie sich angesichts der genannten Entwicklungen mit einem dynamischen Feld konfrontiert, in dem ‚Volkskulturelles‘ besprochen, inszeniert, gepflegt, zertifiziert und in vielfältigen Praktiken – teils ernsthaft, teils ironisch – adaptiert wird, wobei eigene fachspezifische Wissensbestände und Terminologien neu in Umlauf kommen. Wissens- und Begriffstransfers zwischen akademischen Expertinnen und Experten, Medien, Kulturpolitik, Vereinen und Öffentlichkeit erfordern eine neue Aufmerksamkeit im Umgang mit ‚Volkskultur‘ und ihren politischen Implikationen und Effekten.5 Diese aktuelle Dynamik macht es notwendig, auch die Geschichte des Volkskultur-Konzepts nochmals neu zu befragen und fortzuschreiben. Zudem macht der Blick auf neue Konstellationen und Artikulationen in der Gegenwart aber auch sensibel für die vielfältigen historischen Querverbindungen zwischen geschichtswissenschaftlichen und volkskundlichen Fachdiskursen, anwendungsorientierten Wissensformaten und kultureller Praxis im weiten Feld popularer und populärer Kultur.6
Der vorliegende Band der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften stellt sich dieser Herausforderung durch eine Auseinandersetzung mit alten und neuen ‚volkskulturellen‘ Phänomenen. Er setzt sich mit den wechselnden Konjunkturen des Volkskultur-Konzepts im 20. Jahrhundert auseinander und beleuchtet in einer Reihe von aktuellen Fallstudien aus Deutschland, Österreich und der Schweiz historische wie gegenwärtige Semantiken und Gebrauchskontexte dieses Begriffs. Dabei geht es nicht mehr in erster Linie um die "angestrengten Dekonstruktionsprozesse"7 und simplen Kompensationsthesen, denen ‚Volkskultur‘ insbesondere in der Volkskunde/Europäischen Ethnologie seit den 1970er Jahren immer wieder ausgiebig unterworfen worden war, als nämlich Volkskultur als aktive Erfindung und interessengebundenes Produkt einer schnell umbrechenden Moderne herausgearbeitet wurde. Vielmehr soll danach gefragt werden, wie der Gegenstand ‚Volkskultur‘ gegenwärtig und historisch im Zusammenspiel von Wissenschaft, Kulturpolitik und Brauchpraxis konkret ausgehandelt wurde und wird. Gleichzeitig zeigt der Band auch Paradigmenwechsel der rezenten (Volks-)Kulturforschung auf, die sich auffällig stark von früheren Diskursen und Zugängen abwendet.
Die reflexiven Brechungen von ‚Volkskultur‘ gehen einher mit einem Perspektivenwechsel der Forschung hin zu konsequent praxeologischen Ansätzen, die den Dynamiken des ‚Doing Volkskultur‘ gerecht zu werden vermögen. Zugleich wird in neueren Studien in den Blick genommen, wie über ‚Volkskultur‘ gesellschaftliche Ordnungen und politische Leitbilder verhandelt werden: Welche Rolle spielen ‚volkskulturelle‘ Diskurse und Inszenierungen in Prozessen des ‚Doing Society‘? Und wie lassen sich umgekehrt die Konjunkturen des Themas in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit als Effekte gesellschaftlicher Transformationsprozesse verstehen?
In unserem einleitenden Beitrag geben wir zunächst einen begriffsgeschichtlichen Überblick, der die semantische Karriere des Volkskultur-Konzepts in Wissenschaft und Gesellschaft im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert verfolgt und dabei nach der sozialen und kulturellen Logik von ‚Volkskultur‘ fragt, die immer auch als ein distinktes Produkt gesellschaftlicher Deutungseliten zu verstehen ist. Nach einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Begriff deuten wir an, wie eine empirische Kulturanalyse des Spannungsfeldes ‚Volkskultur‘ in seinen gesellschaftlichen und politischen Bezügen aussehen kann. Im Anschluss untersucht Magdalena Puchberger die ‚urbane Heimatkultur‘ im Wien der 1920er und 1930er Jahre im Hinblick auf den spezifischen Status folkloristischer Veranstaltungen im Spannungsfeld großstädtischer Alltagskulturen und fragt umgekehrt danach, wie essentiell die Stadt für die Formierung von ‚Volkskultur‘ in dieser Zeit war. Konrad Kuhn setzt sich in seinem Beitrag mit der Etablierung und Stabilisierung von ‚Volkskultur‘ in der Schweiz über Praktiken der Wissensproduktion auseinander und beleuchtet ? insbesondere für den Zeitraum 1930 bis 1970 ? volkskundliche Wissensformate und politische Kontexte bis hin zur Wiederkehr der ‚Volkskultur‘ im Sinne von ‚Kulturerbe‘. In einer pointierten Fallstudie zum Tübinger Arbeitskreis für Fastnachtsforschung zeigt Karin Bürkert, wie sich ‚volkskundliches Wissen‘ in den 1950er und 1960er Jahren im Zusammenspiel von Wissenschaft, Brauchpraxis und Öffentlichkeit konstituiert hat und was eine konsequent wissensgeschichtliche Perspektive zur Erhellung solcher Konstellationen beitragen kann. Simone Egger wiederum beschreibt ‚Volkskultur‘ am Beispiel Bayerns als "Dispositiv einer spätmodernen Welt" und lässt aktuelle Gebrauchsweisen ethnokultureller Codes des ‚Bayerischen‘ Revue passieren. Sodann öffnet Markus Tauschek das thematische Feld hin zu einer integralen Analyse populärer Kultur im Sinne eines praxeologischen Zugangs. Anhand dreier disparater Felder zeigt er Potentiale ethnographischer Populärkulturforschung auf, die eine ? so Tauschek ? grundsätzlich vieldeutige Praxis in den Blick zu nehmen vermag. Und schließlich thematisieren Reinhard Bodner und Timo Heimerdinger ausgehend von der Ploner-Debatte rund um Verwicklungen der Volkskultur mit der NS-Ideologie aktuelle Herausforderungen, mit denen wissenschaftliche Forschungen zum Thema konfrontiert sind.
In ihrer thematischen Breite liefern die hier versammelten Texte nicht nur konkrete Fallstudien zu einer reflexiven Diskursgeschichte der ‚Volkskultur‘ im 20. und 21. Jahrhundert, sondern auch neues Material zur Frage nach den Wissenstransfers zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Dass die Herausgabe dieser Ausgabe der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften Vertreterinnen und Vertretern der Europäischen Ethnologie überantwortet wurde, wofür wir Reinhard Sieder und den Herausgeberinnen und Herausgebern der ÖZG danken, sehen wir in der besonderen Expertise dieses Faches für den Gegenstand begründet. Zugleich bietet sich das Thema für einen interdisziplinären Dialog besonders an. ‚Volkskultur‘ ist in den 1970er bis 1990er Jahren schon einmal ein – kontroverser – Diskussionsgegenstand gewesen, der die Geschichtswissenschaft und die Europäische Ethnologie letztlich einander näher gebracht hat. Wenn es mit dem vorliegenden Band gelingt, neue Schnittpunkte zwischen den Disziplinen und Perspektiven auszuloten und so den interdisziplinären Dialog zu fördern, dann ist eines seiner Ziele erreicht.
Brigitta Schmidt-Lauber, Wien
Jens Wietschorke, München
Anmerkungen
1 Carola Lipp, Schwierigkeiten mit der Volkskultur, in: Ruth-E. Mohrmann, Hg., Städtische Volkskultur im 18. Jahrhundert, Köln u.a. 2001, 49-65, 49.
2 http://www.nachrichten.at/oberoesterreich/Unesco-Volkskultur-gefeiert;art4,1847044 (26.8.2015).
3 Vgl. dazu u.a. Dorothee Hemme u.a., Hg., Prädikat "Heritage". Wertschöpfungen aus kulturellen Ressourcen, Berlin 2007; Regina Bendix, Dynamiken der In-Wertsetzung von Kultur(erbe). Akteure und Kontexte im Lauf eines Jahrhunderts, in: Burkhard Schnepel u.?a., Hg., Kultur all inclusive. Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus, Bielefeld 2013, 45-73; Markus Tauschek, Kulturerbe. Eine Einführung, Berlin 2013.
4 Anne Meyer-Rath, Zeit-nah, Welt-fern? Paradoxien in der Prädikatisierung von immateriellem Kulturerbe, in: Dorothee Hemme u.?a., Hg., Prädikat "Heritage". Wertschöpfungen aus kulturellen Ressourcen, Berlin 2007, 147-176, 165.
5 Zu dieser Forschungsperspektive vgl. für den deutschsprachigen Raum u.a. Sabine Eggmann/Karoline Oehme-Jüngling, Hg., Doing Society. "Volkskultur" als gesellschaftliche Selbstverständigung, Basel 2013.
6 Zu dieser Unterscheidung vgl. die Erläuterungen in unserem nachfolgenden Beitrag "‚Volkskultur‘ zwischen Wissenschaft und Gesellschaft" sowie in Markus Tauscheks Beitrag "Instrument, Taktik oder Strategie?", ebenfalls in diesem Band.
7 Friedemann Schmoll, Konjunkturen und Reprisen der "Volkskultur". Geschichte und Gebrauchsweisen eines Begriffes, in: Sabine Eggmann/Karoline Oehme-Jüngling, Hg., Doing Society. "Volkskultur" als gesellschaftliche Selbstverständigung, Basel 2013, 28-43, 29.
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