Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23. Jg., Heft 2, 2012

Kulturgeschichten

In den Geisteswissenschaften sind – begründet durch den linguistic turn der 1960er Jahre – eine Reihe von cultural turns auf den Weg gebracht worden. Doris Bachmann-Medick unterscheidet den interpretativen, performativen, reflexiven, postcolonial, translational, spatial und iconic turn.(1) Der Begriff linguistic turn wurde zwar schon von Gustav Bergmann in den 1950er Jahren benutzt,(2) doch erst Richard Rorty hat ihm 1967 mit dem Sammelband The Linguistic Turn weltweit Aufmerksamkeit verschafft.(3) Schon sehr viel früher hatte der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce (1839–1914) die Grenzen der Sprache zu den Grenzen des Denkens erklärt; was nicht in der Sprache möglich ist, kann nicht gedacht werden. Jeder Gedanke ist ein Zeichen; und selbst unmittelbare (noch nicht sprachlich erfasste) Erfahrung ist durch Zeichen vermittelt.(4) Auf anderem Wege gelangte Ludwig Wittgenstein zu der Auffassung: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“(5) Dass Sprache als System (langue) für die Sozial- und Kulturwissenschaften paradigmatisch sei, wurde die Meta-These des Strukturalismus. Dass Sprechen als Praxis (parole) jedoch eine interpretierende, performative, körperliche und Räume erzeugende Tätigkeit von Akteuren sei, wurde zur Grundlage aller sozialkonstruktivistisch angelegten Sozial- und Kulturwissenschaften. Sie haben ab den 1970er Jahren die Reihe der cultural turns ausgelöst.

Die Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften hat sich – schon unter dem Eindruck dieser Veränderungen – seit ihrer Gründung im Jahr 1990 der sozial- und kulturwissenschaftlichen Reform der Geschichtswissenschaften verschrieben. Es sei hier nur auf die Bände „Klios Texte“ (1993/3), „Kultur und Geschichte“ (2002/2), „Bodies / Politics“ (2004/1) oder „Das Gerede vom Diskurs – Diskursanalyse und Geschichte“ (2005/4) hingewiesen. Im vorliegenden Band fragen wir, ob und mit welchen Folgen die kulturwissenschaftlichen turns inzwischen auch in der empirischen Arbeit der Geschichtswissenschaften angekommen sind.

Bei der Vorbereitung half der Zufall mit. Es wurden uns einige thematisch höchst verschiedene Beiträge angeboten. Erst auf den zweiten Blick ist zu erkennen: Auf je eigene Art, implizit und explizit realisieren die Beiträge einen oder mehrere cultural turns. Was bewirkt nun die kulturwissenschaftliche Reflexion für die Konstruktion und die Darstellung des jeweils gewählten historischen Gegenstandes?

Timo Luks (Chemnitz) eröffnet seinen Beitrag mit der Diskussion von drei unterschiedlichen Arten, Ordnungsprobleme der Hochmoderne zu lösen: die aufklärerisch-liberale, die heroisch-mythische und die technokratische des Social Engineering. Diese drei Modi seien im Europa der Hochmoderne koexistent, konkurrierend und überlappend. Luks zeigt dies am Industriebetrieb, den er an den Auto-Fabriken Daimlers in der Weimarer Republik exemplifiziert. Dort entwarfen Sozial­ingenieure in den 1920er Jahren den Betrieb als „geistige Einheit“, nachdem im Übergang von der Kriegswirtschaft zur „zivilen“ Produktion radikalisierte Arbeiter/innen sozialistische Forderungen gestellt hatten und die Ordnung der Weimarer Gesellschaft bedroht schien. Betriebssoziologen und Betriebspsychologen – Luks nennt sie Sozial­ingenieure – schlugen Maßnahmen zur Erziehung der Arbeiter/innen vor, darunter eine neuartige Werkszeitung und das Experiment der Gruppenproduktion anstelle des alten Werkstättenprinzips. Die Arbeiter/innen und Angestellten sollten den Stellenwert ihrer Arbeit im Produktionsablauf überblicken können und sich mit dem Unternehmen identifizieren. Die Sozialingenieure versprachen, mit der neuen Ordnung des Betriebes würde sich auch die Ordnung der Gesellschaft re-stabilisieren.

Der Neuordnung des Industriebetriebs durch Social Engineering stellt Luks eine andere Organisation der industriellen Produktion gegenüber: die Großbaustelle in der stalinistischen Moderne. Die Sowjetunion gestaltete die Moderne als Revolution und Anbruch einer neuen Epoche und beschwor den Heroismus des „neuen Menschen“, um seine Arbeitsleistung zu maximieren. Hingegen habe der konkurrierende nationalsozialistische Staat eine Doppellösung gewählt: Er kombinierte das in der Weimarer Republik von Sozialingenieuren entwickelte Betriebsmodell mit dem totalitären Modell des Lagers. Im Archipel der Konzentrationslager setzte die SS Zwangsarbeit und Terror ein, sie verfügte den Ausnahmezustand, schuf eine Heterotopie der Gesellschaft, in der exzessive Ausbeutung und der Verschleiß der Arbeitskräfte bei niedrigsten Reproduktionskosten möglich waren. Um diese totale Ordnung des Lagers herzustellen, benutzte das NS-Regime irrationale und mythische Kategorien des Rassismus und des Antisemitismus. Das Dritte Reich unterhielt also zwei differente Ordnungen nebeneinander: die des industriellen Betriebes mit wissenschaftlich organisierter Lohnarbeit und die des Lagers mit Zwangsarbeit. Die Betriebs- und Sozialingenieure, die stalinistischen Planer und die Experten der SS reagierten nicht bloß auf einen allmächtigen ökonomischen Imperativ, wie es materialistische und marxistische Sichtweisen nahelegen, sondern sie definierten die Probleme selbst, die sie dann auf drei grundlegend verschiedene Weisen lösten. Die Akzentuierung der technokratischen und der ideologischen Entwürfe und des relativen Spielraums der Planer und Sozialingenieure ist die kulturwissenschaftliche Wendung eines sonst oft positivistisch gefassten Themas der Wirtschafts- und Zeitgeschichte.

Jacques Le Rider (Paris) untersucht die „kulturhistorische Situation“ einer Persönlichkeit, die sich im Wortsinn leidenschaftlich mit Sprache befasste, Fritz Mauthner. Von seinem Vater hatte er die Leidenschaft übernommen, das Prager Deutsch perfekt zu sprechen und zu schreiben, was ihn phobisch werden ließ gegen das Jiddisch (in der Sprache der Antisemiten: das Mauscheln). Überdies machte ihn der in Prag und in Böhmen tobende Sprachenkrieg skeptisch, dass eine interkulturelle Verständigung mittels Sprache möglich wäre; auch wenn man Deutsch und Tschechisch bestens beherrsche wie die Deutsch-Prager Eliten, sei „keine Übersetzung ohne Missverständnis möglich“. Sprachkritik ging hier in Sprachskepsis über. Fritz Mauthner war nicht nur ein (umstrittener) Theoretiker der Sprache, sondern gewissermaßen auch ein Opfer des Prager und böhmischen Sprachenkrieges. Für ihn wurde die zentrale These des linguistic turn sinnlich, leidvoll erlebbar: Jede sozial-kulturelle Wirklichkeit, gleich ob Sprachgruppen, Ethnien, Ideologien oder politische Parteien, konstituiert sich primär in Sprache.

Der folgende Beitrag ist auf den ersten Blick konventionell politikgeschichtlich. Thomas König (Wien) rekonstruiert die Entstehung eines Hochschulgesetzes der Zweiten Republik Österreichs in den Jahren 1954 und 1955, das die Hochschulen und Universitäten bis in die Mitte der 1960er Jahre strukturiert. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass auch diese Untersuchung eine kulturwissenschaftliche Wendung vollzieht, obgleich die Quellenlage dafür eher ungünstig ist, fehlen doch subjektive Texte, und auch die Befragung der Akteure ist nicht mehr möglich. Wie der Autor auf der Grundlage des Briefverkehrs und der Gutachten zum Gesetzesentwurf mehrere Akteursgruppen und einen zentralen Regisseur auf der Seite der Professoren beschreibt, ist sensibel für die sprachliche Performanz der Akteure und die Art ihrer Kommunikation. Sie verhandeln nach eingeführten Ritualen und mit sprachlicher Spitzfindigkeit, um die Entscheidungsmacht zu ihren Gunsten neu zu verteilen bzw. die Machtverhältnisse der Ordinarienuniversität zu festigen. „Eine Handvoll Akteure“, durchwegs Männer, einige in „tragenden Rollen“, konstruierten das ihren Interessen entsprechende Hochschulgesetz. Die Rolle des konservativen Regisseurs übernahm ein Professor für Pädagogik und Kulturphilosophie, Präsident der Akademie der Wissenschaften und Referent der Rektorenkonferenz, der den zuständigen Minister zugleich hofierte und manipulierte. Schon der Symbolische Interaktionismus der 1950er und 1960er Jahre und Kulturanthropologen wie Clifford Geertz in den 1970er Jahren haben die interpretative (semiotische) Wende angestoßen, die Kultur als Text (im weitesten Sinn) und umgekehrt die Texte als Emanationen der Gesellschaft begreift. Thomas König liest die Briefe und Gutachten der Hochbürokraten und Professoren als Protokolle ihrer ritualisierten Interaktionen – nicht mehr als abbildende Texte, die in der älteren hermeneutischen Tradition zeigen würden, wie es gewesen ist – und gibt seiner Studie damit einen interpretive turn.

Kristina Pia Hofer (Linz) legt eine „parallaxe Historiografie“(6) des frühen Kinos und der gegenwärtigen Pornografie im Internet vor. Das frühe Kino um 1907 und der rasch wachsende Konsum von Pornografie im Internet seit etwa 2010 stimulierten Debatten über die Gefahren der neuen Medien und ihre „Opfer“ oder „Geschädigten“. Das Internet bietet von den Nutzer/innen nachgefragte Informationen an und gilt insofern als ein demokratisches Medium. Kritiker/innen befürchten jedoch, dass bestimmte Nutzer-Gruppen geschädigt werden. So erkennen Anti-pornography feminists in der Internet-Pornografie misogyne, Frauen zu Objekten herabwürdigende Darstellungen. Das Internet als Medium wird darüber hinaus problematisiert, da es einer emanzipations-politischen Regulierung nicht zugänglich sei. Eine in vieler Hinsicht ähnliche Diskussion findet die Autorin um 1907 in einer Bewegung für Kinoreform, die den eben erst geschaffenen Kinoraum als gefährlich, dunkel und schädigend vorstellt und die potentiellen Opfer des Kinos benennt. Welche Elemente der Kino-Kritik um 1907 tauchen in der jüngsten feministischen Kritik an der Internet-Pornografie wieder auf? In beiden Fällen finden sich analoge Opfer-Kategorien: der inkompetente Andere, dem es an kritischer Ausstattung gegen das (jeweils) neue Medium fehlt, und das Kind, das im Kino resp. im Internet verführt und missbraucht werden kann. Frühes Kino und Internetpornografie stellen in den Augen der Kritiker/innen gleichermaßen eine unerwünschte erotische Erziehung her.

Der Autorin geht es nicht um die medial vermittelten Artefakte selbst, dies wäre noch der Fokus der Geistesgeschichte. Sie nimmt vielmehr den Diskurs über den Konsum, die Aneignung und die Wirkung der neuen Medien auf die Konsument/innen und Nutzer/innen in den Blick. Ihre These ist, dass der Auftritt neuer Medien im Lauf der Moderne wiederholt Unsicherheiten und Gefährdungs-Diskurse auslöse, die sich in ihren Opfer-Konstruktionen ähneln. Der Foucault’sche Diskurs kann über Räume und Zeiten hinweg wiederholt aufgenommen werden, wenn die akuten Problemlagen danach sind. Auf dieser epistemologischen Grundlage wird die parallaxe Historiografie denkmöglich und ertragreich. Sie ist insofern kulturwissenschaftlich, als sie die Eigenart des Kulturellen als das Symbolische in der Differenz zum Realen (dem Bezeichneten) wie zum Imaginären (Ersehnten, Erhofften, Befürchteten, Erträumten) begreift. So fasst der Begriff des „fantasmatischen Kindes“ die Projektion des unschuldig verletzlichen und schutzbedürftigen Kindes seitens besorgter Kritiker der neuen Medien um 1907 und nach 2010. Imaginär ist auch jener „medieninkompetente Andere“, den die Kritiker/innen – im Unterschied zu sich selber – für unfähig halten, mit dem neuen Massenmedium kritisch und selektiv umzugehen und Schaden von sich abzuwehren. Das kulturwissenschaftlich geschulte Auge erkennt auch neue Räume, die um das Medium entstehen und den Kritiker/innen als gefährliche Orte erscheinen: Um das Medium Film entsteht das Kino als dunkler, verdunkelter Raum, in dem (vermeintlich) schädliche Praktiken möglich werden: von Popcorn bis Petting. Als gefährlich gilt zuletzt auch der private (vordem bürgerlich-patriarchal beherrschte und kontrollierte) Wohn-Raum, in dem Cyberporn unbeschränkt auf den „eigenen“ Bildschirm geholt werden kann, sortiert nach Vorlieben und Wünschen. Das Web selbst mit seinen unzähligen Domänen sei ein Raum, der sich staatlichen oder gesellschaftlichen Kontrollversuchen großteils entzieht. Kulturwissenschaftlich an der parallaxen Konstruktion ist auch, dass sowohl die Produktion der Räume als auch die in sie projizierten (bewegten) Bilder und Einstellungen als proaktive Konstruktionen des Wirklichen begriffen werden. Das frühe Kino wie auch die Pornografie im Internet, teils von Professionellen, teils von Amateur/innen mit Heimkameras erzeugt, schaffen neue Räume und neue Bilder, die über ihre massenhafte Konsumtion wirkmächtig werden. Regisseure und Profi- wie Laien-Darsteller/innen, Kinobesucher/innen und Internet-Konsument/innen sind ungleich mächtige Kulturproduzenten.

Seit längerem schon gilt das Museum als kulturelles Gedächtnis der Gesellschaft. Peter Melichar (Bregenz) stellt dies in Frage, wie es mit dem Gedächtnis der Individuen zusammenhinge. Als soziale und wissenschaftliche Institution sei das Museum in einigen Hinsichten anachronistisch geworden. Insbesondere historische Dauerausstellungen, die legitimatorische Zwecke verfolgen, seien veraltet. Dennoch habe das Museum Konjunktur, wie die steigende Zahl museologischer Publikationen beweise. Melichar führt dies auf die Prominenz des Museums im Diskurs der Gedächtnisgeschichte zurück.

Das Museum sei ein Gedächtnis, ein „Gedächtnisort“ (Nora), ein kollektives, soziales, kommunikatives oder kulturelles Gedächtnis der Gesellschaft und der Nation – so die geläufigsten Metaphern, die eine Gedächtnisfunktion des Museums nahelegen. Melichar kritisiert diese Kollektiv-Metaphern und führt sie auf die von Maurice Halbwachs in den 1920er und 930er Jahren entwickelte Vorstellung zurück, ein „kollektives Gedächtnis“ bestimme die Erinnerung des Einzelnen. Wie wäre dann ein dissidentes, abweichendes Erinnern, der Streit der Erinnerungen in Familien, Gruppen und politischen Parteien und Bewegungen möglich? Die Vorstellung, dass alles Neue aus dem über das kollektive Gedächtnis vermittelten Alten hervorgehe und insoweit aus diesem bestimmt werde, folge aus der inadäquaten Anwendung eines biologischen Konzepts auf Erkenntnisprozesse.

Schließlich sei zu fragen, ob die Gedächtnisgeschichte nicht die heimliche Rückkehr der Geistesgeschichte sei, in welcher der Geist (oder Droysens überragende Idee) im neuen Gewand des kollektiven Gedächtnisses auftrete und sich überdies Bewusstsein auf Erinnerung reduziere. Das Museum als kollektives Gedächtnis aufzufassen homogenisiere die Inhalte des Museums zu einem unstrittigen Erinnerungsschatz „der Gesellschaft“ und verdecke, dass auch hier geforscht, ausgewählt, weggelassen und interveniert – kurz: um Bedeutung gestritten wird. Die Kulturwissenschaften werden sich mit dieser Kritik ihrer vielleicht erfolgreichsten Erfindung – den kollektiven, kulturellen, sozialen Gedächtnissen – auseinandersetzen müssen.

Von der operativen Fiktion der kollektiven Gedächtnisse ist es nicht allzu weit zu den Träumen und zum Unbewussten. Isabel Richter (Bremen) untersucht Traum-Erzählungen als Quellen der europäischen Kulturgeschichte. Während die frühe Neuzeit in Träumen einen Zugang zu göttlichen Bestimmungen und zu Verstorbenen sieht, werden Träume am Übergang in die Hochmoderne ein Fenster zum psychologisch und psychoanalytisch konstruierten Selbst. Diese Veränderung sei – so die These – ein markanter Teil des europäischen Individualisierungsprozesses.

Der Zugang zu den vergangenen Träumen eröffnet sich nur über die Sprache der Traum-Erzähler/innen. Freud und C. G. Jung hielten die Träume wie Mythen, Sagen und Märchen zwar für kulturell, aber für ahistorisch; Jung meinte, Form und Inhalt der Träume wären von dauernder und universeller Gültigkeit. Hingegen findet Isabel Richter erhebliche Verschiebungen. Die Niederschrift von Träumen in den Tagebüchern von gebildeten Bürgerinnen und Bürgern protestantischen und katholischen Glaubens im 18. und 19. Jahrhundert zeigt, dass Träume in hohem Maße zeit- und kulturspezifisch sind: Sie sind an die jeweils dominanten religiösen und säkularen Deutungsmuster, Topoi, Metaphern und rhetorischen Figuren gebunden. Die bedeutendste Veränderung habe sich im 19. Jahrhundert vollzogen, als die Träume nicht mehr über das Ende des Lebens in eine religiöse Transzendenz und Ewigkeit führten, sondern ‚nur‘ noch die Grenze zwischen dem Realen und dem Imaginären im irdischen Leben überschritten.

Um die Symbolisierung und das Imaginäre der Herrschaft des europäischen Hochadels geht es Simon Karstens (Trier). Die Strategie Karls VI., sich als Nachfolger der spanisch-habsburgischen Krone in den südlichen Niederlanden (etwa das Territorium des heutigen Belgien und Luxemburg) mittels rhetorischer und ästhetischer Mittel zu etablieren, nennt Karstens die Herstellung der „spanischen Illusion“. Inwiefern haben die cultural turns auch die wohl älteste Domäne der Geschichtswissenschaften, die Geschichte der Herrschenden, verändert?

Die dynastische Herrschaftspolitik scheint geradezu prädestiniert, um kulturwissenschaftliche Kategorien und Begriffe einzuführen, geht es hier doch unübersehbar um symbolische Praxen. Kulturwissenschaftlich geprägt ist hier folglich auch die Definition von Herrschaft als fortlaufendes „Ergebnis kommunikativer Prozesse“, die zwischen den konkurrierenden Fürstenhäusern, zwischen dem Herrscher, den Statthaltern, Ministern, Offizieren und den ‚Untertanen‘ ablaufen. Welches das Personal, die Instrumente und die Ressourcen Karls VI. sind, seiner Herrschaft in den südlichen Niederlanden Legitimität zu verleihen, und wie die fremden ‚Untertanen‘ darauf reagieren, ist das Thema des Beitrags. Der Autor zeigt Sensibilität für die symbolischen Praktiken einschließlich der oft differenten Interpretation der Symbole und Traditionen. Die historistische Illusion, die vergangenen Verhältnisse ließen sich streng quellenimmanent in der Sprache der Zeitgenossen nicht nur beschreiben, sondern auch erklären, wird durch die Auffassung abgelöst, dass das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten nur mittels rezenter sozial- und kulturwissenschaftlicher Begriffe (wie Kommunikation, Symbolisierung, Partizipation, Argumentations- und Deutungsmuster, rhetorische Figur, ikonographische Ausgestaltung der Zeremonie u.a.) hinreichend zu erklären ist. Was wie eine vordergründige Modernisierung und Ausweitung der Fachsprache aussieht, verändert die Herrschaftsgeschichte und erhöht ihre Erklärungskraft. Die kulturwissenschaftliche Transformation manifestiert sich in erklärenden Begriffen und Konzepten wie jenem des „vertrauten Fremden“, der auf die (sprachliche) Kommunikation des (fremden) Herrschers und der Beherrschten einschließlich ihrer (oft differenten) Interpretationen der Symbole und Rituale verweist.

Nach der Kritik aller Varianten von kollektiven Gedächtnissen bei Peter Melichar werden Gedächtnis und Erinnerung auch von Maria Pohn-Weidinger und Ingo Lauggas (Wien) aufgegriffen, doch mit einer anderen Wendung. Sie fragen, wie es autobiografischen Erzähler/innen gelingen kann, ihre Erinnerungen so zu ordnen und zu erklären, dass sie sich für ihre Mit- und Nachwelt kohärent und schlüssig ausnehmen. Autobiografisches Erzählen gilt hier – und auch das ist ein sozial- und kulturwissenschaftlicher Imput – als Teil einer umfassenden und notwendigen Strategie aller Subjekte, sich gesellschaftlich (und das bedeutet immer auch: historisch) zu verorten.

Damit stellt sich auch hier die Frage nach dem Verhältnis von individueller Erinnerung resp. Erzählung und kollektiven Wahrnehmungs-, Handlungs- und Deutungsmustern. Doch nicht kollektive Gedächtnisse werden hier diskutiert, sondern das Foucault’sche Konzept des Diskurses. Welchen Gebrauch machen die autobiographischen Erzähler/innen von Diskursen? Pohn-Weidinger und Lauggas plädieren für die Kombination biographischer und diskursanalytischer Verfahren. Sie nutzen u.a. Gramscis Konzepte des kritischen Alltagsverstandes (senso comune) und der Hegemonie jener Deutungen, die alle Praktiken im Alltagsleben vollständig durchdringen, sowie Althussers Lesart von Ideologie. Und sie plädieren für die Erweiterung der Cultural Studies zu einer historischen Gesellschaftswissenschaft, die sich nicht auf bestimmte kulturelle Arenen (wie Populärkultur und Alltagsleben) beschränkt, sondern Bedeutungs- und Sinnproduktion in allen Bereichen der Gesellschaft untersucht.

Die britischen Cultural Studies werden auch im Beitrag von Mona Singer (Wien) mehrfach apostrophiert. Singer fragt zunächst, was den Reisenden etwa bei Francis Bacon und Isaac Newton aufgetragen wird. Im 18. und 19. Jahrhundert bestimmen der europäische Imperialismus und der Kolonialismus das Reisen. Pioniere entdecken die Land-Routen und die Seewege, auf denen ihnen Missionare, Armeen und Handelskompanien folgen. Im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert begeben sich Anthropologen und Kulturanthropologen auf Forschungsreisen und entdecken zuerst fremde „Rassen“, dann fremde, außereuropäische „Kulturen“. Darauf gründet die frühe Kulturanthropologie mit ihrer organischen, naturalisierenden Fassung von ‚Kultur‘. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts habe sich der epistemologische Mehrwert des Reisens erheblich verändert: Während ein Teil der Kultur- und Sozialforscher weiterhin reist, um dem zeitgenössisch Fremden und den Überresten ‚versunkener‘ Kulturen auf die Spur zu kommen, gehen Life Sciences und andere Naturwissenschaftler/innen in ihre Labors, deren Standorte eher unbedeutend sind, da sie ihre Daten in das World Wide Web schicken. Am Ende wirft Mona Singer einen kritischem Blick auf die Einschränkungen der physisch Reisenden durch Staatsgrenzen und auf ihre staatlich-juristische Kategorisierung als Touristen, Flüchtlinge, Asylanten und Migranten. Die Autorin plädiert für Veränderung. Aus welchen Motiven sie auch immer reisen, künftig sollten alle Reisenden das (Grund-)Recht haben, anzukommen. Kulturanalyse wird hier in der Tradition der britischen Cultural Studies auch betrieben, um künftige Emanzipationen zu erdenken.

Peter-Paul Bänziger (Zürich) berichtet über seine laufende Forschung zum „betriebsamen Menschen“, d. h. die Produzent/innen und Konsument/innen in der fordistisch-kapitalistischen Produktionsweise. An Ego-Dokumenten will er herausfinden, wie Arbeiter/innen und Angestellte mit dem Experten-Diskurs der Sozial­ingenieure um Arbeit und Erholung umgehen. Verändern sie ihre Körperbilder und Selbstverhältnisse ab den 1950er Jahren in Übereinstimmung mit der Humankapital-Theorie? Bänziger findet anderes: Die jugendlichen Arbeiter/innen und Angestellten sind eigen-sinnig. Sie denken und fühlen nicht nach den Gesetzen der Thermodynamik. Sie wollen sich für ihren Arbeitsdruck durch Konsum und Vergnügen – also weitere Verausgabung – entschädigen. Schon Kracauers Metapher der Betriebsamkeit schloss Produktion und Konsum ein: „Aus dem Geschäftsbetrieb in den Amüsierbetrieb“, so beschrieb er den Feierabend der Angestellten Ende der 1920er Jahre. Die kulturkritische Debatte der 1920er und 1930er Jahre erfand dafür neue Begriffe wie „Kulturindustrie“ und „Massenbetrug“ (Adorno, Horkheimer, Fromm), „Massenmedien“, „Konsumgesellschaft“. Auch Gramsci fragte in seinen Gefängnisheften nach dem zeitgenössischen Zusammenhang von Produktion, Technik, Politik, Konsum und Moral, den er als „Amerikanismus“ und „Fordismus“ bezeichnete. Bänzigers Ego-Dokumente zeigen aber auch, dass ein Teil der „Freizeit“ ab den 1950er Jahren nicht dem individualisierten Konsum, sondern der Pflege der intimen Beziehungen und des Familienlebens gewidmet wird. Hier werde der / die intrinsisch motivierte, sich selbst disziplinierende Arbeiter/in und Angestellte als Akteur/in der fordistischen Arbeits- und Konsumgesellschaft hervorgebracht.

Am Ende des Bandes ediert Oskar Pausch, ehemaliger Direktor des Österreichischen Theatermuseums, die von ihm vorgenommene Transkription verlorengegangener Aufzeichnungen des Bühnenbildners Alfred Roller über seinen Besuch bei Hitler in der Berliner Reichskanzlei im Februar 1934. Der Besuch fand auf Einladung Hitlers anlässlich der bevorstehenden Neuinszenierung des Parsifal in Bayreuth statt. Susanne Baer (Berlin) setzt sich anlässlich der Emeritierung der Rechtshistorikerin Ursula Flossmann (Johannes Kepler Universität Linz) mit deren Verdiensten um die Legal Gender Studies auseinander.

Wie eingangs gesagt, der bislang erreichte Grad der Rezeptionen des linguistic und der cultural turns in den Geschichtswissenschaften sollte an der hier vorgelegten Sammlung von Aufsätzen in etwa ablesbar werden. Ohne dem Urteil der Leserinnen und Leser vorgreifen zu wollen, fasse ich den Ertrag meiner Lektüre folgendermaßen zusammen:

Konsensual scheint in den Geschichtswissenschaften inzwischen, dass sich das Kulturelle – anders als in orthodox-marxistischen Überbau-Theorien – sowohl im Sein als auch im Bewusstsein findet. Kulturell sind alle Interaktionen, die auf Sinn und Bedeutung abstellen. Von kulturellen Bedeutungen und Werten durchdrungen und solcherart gestaltet sind aber auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sozialen, politischen und religiösen ebenso wie die ökonomischen und die ökologischen.

Soll sich für das allerorten anzutreffende Kulturelle eine eigene Fachwissenschaft ausbilden oder werden die cultural turns alle Fachwissenschaften nach und nach verändern? Die Ausdifferenzierung der Fachwissenschaften fördert eine Spezialisierung, die weder abgeschlossen ist noch rückgängig gemacht werden kann. Die erreichten Spezialisierungen des Wissens könnte eine als Fachwissenschaft institutionalisierte Kulturwissenschaft wohl kaum erreichen, müsste sie doch das Kulturelle überall aufsuchen: in der Politik, in den Wissenschaften und in den Religionen, im Alltag und in den Festen, im Krieg und im pazifistischen underground, bei den Arbeitslosen und in den Führungsetagen der Unternehmen, in den Lebenswelten der Wohlhabenden und Reichen und in den Slums und favelas. Wo sie sich als universitäres Fach erfolgreich etabliert hat, wie in den Cultural Studies der USA, reduziert sie sich jedoch vornehmlich auf Literatur, Film und neue Medien und stellt somit eher eine Erweiterung der Literaturwissenschaften als der Geschichts- und Sozialwissenschaften dar.

Auch die westlichen Geschichtswissenschaften verändern sich, indem sie den linguistic turn und die cultural turns mit einiger Verzögerung und unterschiedlich sorgfältig rezipieren. Es ist deutlich zu sehen, dass die jüngeren und jüngsten Ansätze in den Geschichtswissenschaften dazu am ehesten im Stande sind, da sie zuallererst aus der Reflexion kultureller Prozesse hervorgegangen sind: Alltagsgeschichte, Historische Anthropologie, Geschlechtergeschichte, Biographieforschung, Konsumforschung, historische Diskursanalyse, Postcolonial und Subaltern Studies. Doch auch in der viel älteren Herrschafts- und Politikgeschichte und sogar in der lange Zeit eher positivistisch angelegten Wirtschaftsgeschichte zeigt sich eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Dimension des Symbolischen. Auch die neue Globalgeschichte untersucht kulturelle Transfers zwischen Weltregionen, die mit ökonomischen Transfers und Migrationen einhergehen.

Wir befinden uns offenbar im Prozess einer Annäherung zwischen dem Paradigma der historischen Sozialwissenschaften und jenem der historischen Kulturwissenschaften. Von Konvergenz zu reden wäre wohl voreilig und beim gegenwärtigen Stand übertrieben. Immerhin aber haben die cultural turns nach und nach deutlich gemacht, dass die Wirklichkeiten des Ökonomischen, Politischen, Sozialen, Religiösen usw. nicht von ihren (kulturellen) Symbolisierungen und auch nicht von ihrem Imaginären abgetrennt untersucht werden können. Freilich ist damit erst das Problem im Grundsatz bezeichnet. Wir stehen am Anfang eines längeren Weges, die historischen Sozialwissenschaften mit kulturwissenschaftlichen Begriffen und Konzepten für die angemessene Integration des Symbolischen und des Imaginären auszustatten.

Reinhard Sieder / Wien

Anmerkungen

(1)    Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 2. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2006.
(2)    Ebd., 34.
(3)    Richard Rorty, Hg., The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method. With two Retrospective Essays, Chicago/London (1967) 1992.
(4)    Charles S. Peirce, Schriften I. Zur Entstehung des Pragmatismus, mit einer Einführung von Karl-Otto Apel, Frankfurt am Main 1967; ders., Schriften II. Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, mit einer Einführung herausgegeben von Karl-Otto Apel, Frankfurt am Main 1970; zur Einführung vgl. Ludwig Nagl, Charles Sanders Peirce, (Reihe Campus Einführungen), Frankfurt am Main/New York 1992.
(5)    Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Mit einem Nachwort von Brian McGuinness, Frankfurt am Main 1988, 99.  
(6)    Parallaxe meint hier eine Perspektive, die auf verschiedene Zeiten und Räume gerichtet ist. Sie findet zwei oder mehr Seiten desselben Phänomens zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten. Das Phänomen ist in diesem Fall die Wahrnehmung neu auftretender Massenmedien als „gefährlich“. Die Angst vor den Gefahren des frühen Kinos um 1907 und die Angst vor den Gefahren der Pornografie ab ca. 2010 im Internet gelten als zwei Seiten desselben Phänomens. Zum Konzept der Parallaxe vgl. Slavoj ŽiŽek, Parallaxe. Aus dem Englischen von Frank Born, Frankfurt am Main 2006, 9.

Inhalte

Timo Luks
Eine Moderne im Normalzustand. Ordnungsdenken und Social Engineering in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Jacques Le Rider
Zur kulturhistorischen Situation von Fritz Mauthners Sprachkritik

Thomas König
Die Entstehung eines Gesetzes: Österreichische Hochschulpolitik in den 1950er Jahren

Kristina Pia Hofer
Frühes Kino und Pornografie im Internet: Eine „parallax historiography“ in der Diskussion zweier ‚neuer‘ Medien?

Peter Melichar
Ist das Museum ein Gedächtnis?

Isabel Richter
Geschichte aus Träumen. Traum-Erzählungen als Quellen der europäischen Kulturgeschichte

Simon Karstens
Die spanische Illusion – Tradition als Argument der Herrschaftslegitimation Karls VI. in den südlichen Niederlanden

Maria Pohn-Weidinger / Ingo Lauggas
Kohärente Erinnerung? Thesen zu Diskurs und Alltagsverstand in narrativen Quellen

Mona Singer
Skizzen zu einer Philosophie des Reisens

Peter-Paul Bänziger
Der betriebsame Mensch – ein Bericht

Oskar Pausch
Der Besuch Alfred Rollers bei Adolf Hitler

Susanne Baer
Spannende Rechtswissenschaft

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