Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 21. Jg., Heft 3, 2010

Vertreibung von Wissenschaft

Mit einigem Recht wurde das vergangene Jahrhundert als eines der Vertreibungen bezeichnet. Schätzungen der Zahl jener, die gegen ihren Willen den Ort und das Land verlassen mussten und oft genug nie mehr zurückkehren konnten, gehen in die Dutzende Millionen.

Es besteht jedoch kein Konsens darüber, welche Fälle in die Betrachtung eingeschlossen werden sollen und welche nicht. Bewegungen größerer Zahlen von Menschen im Raum wurden im Deutschen lange Zeit mit dem Begriff Wanderung gefasst. Nicht nur wegen der zunehmenden Anglisierung auch der deutschen Wissenschaftswelt spricht man mittlerweile zumeist von Migration und unterscheidet diese von räumlicher Mobilität. Unter Mobilität versteht man Ortswechsel innerhalb nationalstaatlicher Grenzen, was auch als Binnenmigration (früher: Binnenwanderung) bezeichnet wird. Die amtliche Statistik liefert für beide Formen von
Wanderung Daten, deren Qualität allerdings oft fraglich ist und die der Forschung nicht immer zugänglich sind. Aus den Melderegistern werden Salden sowohl der Binnen- wie der Außenmigration errechnet, und aus den Akten der Sozialversicherungen
könnten Zahlen über die räumliche Mobilität valide errechnet werden. Volkszählungen und Umfragen runden unser Wissen über räumliche Mobilität ab.

Nur für das Dritte Reich finden sich unter den amtlichen Veröffentlichungen auch solche, die über Vertreibung Auskunft geben: Der Reichsanzeiger veröffentlichte Listen über die Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger. Die dort angeführten Personen als Vertriebene zu bezeichnen liegt nahe, tatsächlich wurden aber während des NS-Regimes weit mehr Personen Opfer von Vertreibung. Andere Regime waren weder so penibel und selbstgewiss wie die Nazis, noch wollten sie sich über die Schulter schauen lassen. Die Zahlen sind daher in praktisch allen Fällen, in denen es zumindest unstrittig ist, dass es zu Vertreibungen kam, Gegenstand heftiger und andauernder Auseinandersetzungen.

Der fehlende Konsens über die soziale Tatsache ‚Vertreibung‘ resultiert nicht zuletzt daraus, dass es im 20. Jahrhundert nur wenige Fälle ausdrücklich so benannter Vertreibungspolitik gab. Oft wurden die Maßnahmen von den historischen Akteuren mit wohlklingenderen Bezeichnungen versehen, und manche dieser Neologismen wurden später zu Begriffen eindeutiger Bedeutung: Umsiedlung, Bevölkerungsaustausch, Verschickung, Evakuierung, nationale Reservate, deutsche Operation, polnische Operation, ethnische Säuberung.

In den historisch mehr oder weniger gut dokumentierten Fällen, auf die solche Begriffe angewandt wurden, übte man Zwang auf jene aus, die sich von einem Ort zu einem anderen begeben sollten. Gelegentlich wurde der Zwang durch Verlockungen und Versprechungen verbrämt. Die Politik der Vertreibung bedarf nicht in jedem Fall des Einsatzes von angedrohter oder ausgeübter Gewalt. Manchmal genügt es auch, denen, die man nicht mehr neben sich leben lassen will, die Subsistenzmittel derart zu beschneiden, dass sie ihren Wohnort scheinbar freiwillig aufgeben. Von ‚Vertreibung‘ ist jedenfalls dann zu sprechen, wenn der Weggang mit welchen Zwangsmitteln auch immer betrieben wird und erfolgreich ist.

Der Umstand der Wanderung allein reicht hingegen nicht aus, um von Vertreibung sprechen zu können. Beispielsweise nötigten seit alters ±Missernten Betroffene, ihren Wohnort zu verlassen. Der Begriff Vertreibung setzt Akteure voraus, die den Weggang Anderer mit Absicht betreiben. Die Pläne und Vorstellungen der Vertreiber sind analytisch zu berücksichtigen, soll die Rede von Vertreibung nicht beliebig werden. Die Schwierigkeit, die Intentionen der Vertreiber im Rückblick festzustellen, führt oft zu Deutungsstreit. Viele Vertreibungen kamen ohne Ausbürgerungs- oder Deportationslisten zustande; manchmal fehlt ein identifizierbarer Akteur, der verantwortlich gemacht werden könnte. Nicht vollends geklärte Sachverhalte laden dazu ein, sich nach begrifflichen Alternativen umzusehen; erinnerungspolitische Kontroversen tragen dazu bei, dass sich die erwünschte Klarheit nicht herstellen lässt.

Ein gemeinsames Merkmal totalitärer Staaten ist es, nicht davor zurückzuschrecken, die Vertreibung von Einzelnen und von Bevölkerungsteilen ausdrücklich per Dekret zu administrieren. Doch neben der Gewalt des Entzuges der Staatsbürgerschaft, der Zustellung einer amtlichen Aufforderung, sich dann und dann dort und dort zur gemeinsamen Verbringung in eine unbekannte Ferne einzufinden oder dem Aufgreifen von Opfern während einer Razzia finden wir auch Fälle, in denen die Staatsgewalt den zur Vertreibung Bestimmten die Lebensgrundlage schrittweise entzieht und sie auf diese Weise zur scheinbar freiwilligen Ausreise nötigt. Beschränkungen der Ausübung von Berufen, das Vorenthalten von Lebenschancen, der Entzug von vermeintlichen oder tatsächlichen Privilegien kommen einem in den Sinn, wenn man nach Beispielen sucht, in denen zwar Zwang vorhanden, aber weniger eindeutig einem Vertreiber kausal zurechenbar ist.

Angesichts der großen Zahl mehr oder minder gewaltsamer Vertreibungen überrascht es nicht, dass die Nachfahren der Vertriebenen aus der Geschichte gelernt haben wollen und sich angesichts oft geringerer Bedrohungen auf Koffern sitzen sehen. Kommendes Unheil vorherzusehen oder wenigstens zu ahnen mag eine der wenigen Lektionen sein, die sie das 20. Jahrhundert gelehrt hat.

Vertreibungen durch das NS-Regime werden von niemandem mehr in Frage gestellt, der ernst genommen werden will. Dennoch sind ihre Facetten noch längst nicht geklärt. In der Literatur findet man die Begriffe Exil, (erzwungene) Emigration, Vertreibung und Verfolgung – Begriffe, die sich von Auswanderung und Migration durch das Zwangsmoment unterscheiden. Als Exil gilt der aufgenötigte, vorübergehende Aufenthalt in einem halbwegs sicheren Zufluchtsland. Davon wird Emigration unterschieden, die, wenn sie nicht durch den Zusatz „erzwungene“ eindeutig spezifiziert wird, synonym mit Auswanderung verwendet wird. Der Begriff Auswanderung unterstellt, dass sie freiwillig und der günstigeren Lebensbedingungen anderswo wegen erfolgt. Als vertrieben gelten jene, denen der Ortswechsel aufgenötigt wurde, doch bekanntlich gingen einige aus eigenem Antrieb ins Exil, und
nicht allen Auswanderern und Migranten der vergangenen zwei Jahrhunderte wird man attestieren wollen, dass sie ja auch hätten bleiben können.

Die aktuellen politischen Debatten über Scheinasylanten und Wirtschaftsflüchtlinge machen deutlich, dass nicht jeder Zwang, den jemand auf sich ausgeübt fühlt, von anderen als akzeptabler Grund für den Wechsel des Landes angesehen wird. Ohne die Erfahrungen der Nazi-Diktatur wäre die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wohl anders formuliert worden, falls sie denn überhaupt beschlossen worden wäre. Der Artikel 14 („Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen. Dieses Recht kann nicht in Anspruch genommen werden im Falle einer Strafverfolgung, die tatsächlich auf Grund von Verbrechen nichtpolitischer Art oder auf Grund von Handlungen erfolgt, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstoßen.“) normiert den Anspruch aus politischen Gründen Vertriebener auf Asyl in allen Ländern, die dieser Erklärung beigetreten sind. Der diskursive Kampf um die Interpretation dieses Artikels verweist auf die Mehrdeutigkeit, die Vertreibungen oft eigen ist.
 
Der vorliegende Band mischt sich in diese Debatte ein. Die Beiträge konzentrieren sich auf eine Teilgruppe von Vertriebenen. Zu jenen, die im 20. Jahrhundert zur Auswanderung gezwungen wurden, zählten auch sogenannte Bildungsbürger. Unter den vom Nazi-Regime vertriebenen Deutschsprachigen waren sie deutlich überrepräsentiert. Sie waren nicht die ersten Gebildeten, die ihre Heimat verließen oder verlassen mussten. Die Adeligen, die sich vor der Französischen Revolution in Sicherheit brachten, waren wohl ebenso wie die Unterlegenen der 1848er Revolution und die von den Sowjets Vertriebenen im Schnitt mit mehr Bildungskapital
ausgestattet als jene, die zurückblieben.
 
Den Fokus auf vertriebene Gebildete zu richten lädt ein, die kontrafaktische Frage zu erörtern, was denn gewesen wäre, wenn sie geblieben wären oder nach dem Ende der Herrschaft, derentwegen sie das Land verlassen mussten, zurückgekehrt wären. Das wurde im Kontext der Erforschung der sogenannten Wissenschaftsemigration derart eingehend diskutiert, dass dieser Gedanke mittlerweile zum Bestandteil des Wissens der Leserinnen und Leser von (etwas besseren) Tageszeitungen geworden ist. Es mag sein, dass diese Form der Popularisierung historischen Wissens, die, wie in anderen Fällen von Popularisierung auch, mit einem Verlust an Differenzierung einhergeht, Fachleuten als Banalisierung erscheint. Die auf eine vergleichende Verlust-Gewinn-Bilanz zielenden Veröffentlichungen sind mittlerweile in Verruf gekommen. Der Hinweis darauf, dass es sich bei vertriebenen Intellektuellen
und Wissenschaftlern beiderlei Geschlechts nicht um Objekte handelt, die vom Prozess der Niederlassung in einer zuvor ‚fremden‘ Kultur unverändert geblieben wären, ist richtig. Doch sagt er noch nichts darüber aus, welche Folgen die ‚Verpflanzung‘ von kreativen Köpfen auf die ursprüngliche und die neue Welt hatte. Der Verlust durch Vertreibung, der in vielen intellektuellen, künstlerischen und wissenschaftlichen Feldern beispielsweise Österreichs und Deutschlands augenscheinlich ist, löst sich auf, wenn man darauf verweist, dass mancher spätere Nobelpreisträger an seinem Geburtsort die Bedingungen für die von ihm vollbrachten hervorragenden Leistungen nicht vorgefunden hätte. Jüngst haben Gerhard Sonnert und Gerald Holton am Beispiel der Kindertransporte-Generation, also jener Flüchtlinge, die ohne Berufsausbildung, aber mit ihrem Bildungskapital gezwungen waren, Mitteleuropa zu verlassen und schließlich in den USA landeten, gezeigt, welche geradezu unglaublichen beruflichen Erfolge möglich waren.(1)

Einige Aspekte der Vertreibung von Gebildeten durch das NS-Regime sind relativ gut erforscht. Prominenten wurden biografische Darstellungen gewidmet; das Schicksal wissenschaftlicher Schulen wurde analysiert; und für die meisten deutschsprachigen
Universitäten liegen Darstellungen über die entlassenen und vertriebenen Wissenschaftler/innen vor. Hingegen behandeln die hier veröffentlichten Beiträge von Miriam Intrator, Frank W. Stahnisch, Kerstin Tomenendal, F. Özden Mercan und Fatma Doğuş Özdemir Gruppen von vertriebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die bisher nicht im Brennpunkt der Aufmerksamkeit standen.
Intrator zeigt an den Flüchtlingen, die vorübergehend Arbeit in der New York Public Library fanden, dass in dem wichtigsten Aufnahmeland für geflüchtete Wissenschaftler/ innen nicht nur Universitäten als Arbeitgeber fungierten. Stahnisch untersucht eine Gruppe von Wissenschaftler/inne/n, deren Versuche, in Nordamerika Fuß zu fassen, von einer Umorientierung ihrer fachlichen Ausrichtung begleitet waren. Kerstin Tomenendal und ihre Mitautorinnen widmen sich dem Einfluss, den in die Türkei emigrierte deutschsprachige Wissenschaftler auf türkische Studierende hatten.

Alessandra Gissi informiert über italienische Wissenschaftler/innen, die nach Erlass der antijüdischen Gesetze (1938) durch das faschistische Regime außer Landes gehen mussten. Sie macht deutlich, dass in Italien wegen der Konzentration der Forschung
auf die Massenauswanderung, die im 19. und im frühen 20. Jahrhundert stattfand, das Phänomen der Vertreibung von Wissenschaftler/innen bisher weniger Beachtung gefunden hat. Paola Bayle erweitert den Horizont über europäische Faschismen und Diktaturen hinaus. Sie zeigt in ihrer Analyse der Emigration von chilenischen Wissenschaftlern während des Pinochet-Regimes, dass in Großbritannien seit den 1930er Jahren eine Hilfsorganisation für zwangsemigrierte Forscher/innen etabliert war. Die Entstehung dieser Flüchtlingshilfe in den 1930er Jahren wird von Christian Fleck rekonstruiert.

Die beiden abschließenden Beiträge widmen sich wieder deutschsprachigen Wissenschaftler/inne/n. Tamara Ehs setzt sich mit Hans Kelsens Weggang aus Wien auseinander und erörtert, ob es sich bei diesem Ortswechsel, den man bislang eher als gewöhnlichen Fall von Karrieremobilität betrachtet hat, nicht um den Beginn einer Vertreibung handelt. Matthias Krämer schließlich untersucht, wie nach Nordamerika emigrierten Historikern nach 1945 in den Rezensionen der Historischen Zeitschrift antiamerianische und antijüdische Vorurteile entgegentraten, welche ihre Versuche, durch Gastprofessuren am Aufbau post-nationalsozialistischer
Geschichtswissenschaften in Deutschland teilzunehmen, erschwerten.

Insgesamt zeigen die Beiträge den Nutzen einer vergleichenden Perspektive auf das Phänomen der Vertreibung von Wissenschaftler/inne/n. Deutlich wird aber auch, dass dieses Thema noch lange nicht erschöpfend behandelt worden ist.

Christian Fleck/Graz

Anmerkung

(1) Gerhard Sonnert/Gerald Holton, Was geschah mit den Kindern? Erfolg und Trauma junger Flüchtlinge,
die von den Nationalsozialisten vertrieben wurden, Wien 2008; englisches Original: What
happened to the children who fled Nazi persecution, New York 2006.

Inhalte

Miriam Intrator
A Temporary Haven: Jewish World War II Refugee Scholars at the New York Public Library, 1933-1945

Frank W. Stahnisch
German-Speaking Émigré Neuroscientists in North America after 1933: Critical Reflections on Emigration-Induced Scientific Change

Kerstin Tomenendal/Fatma Doğuş Özdemir/F. Özden Mercan
German-Speaking Academic Émigrés in Turkey of the 1940s

Alessandra Gissi
Italian scientific migration to the United States of America after 1938 racial laws

Paola Bayle
1973: Chilean academics in the Emergency

Tamara Ehs
Vertreibung in drei Schritten. Hans Kelsens Netzwerk und die Anfänge österreichischer Politikwissenschaft

Matthias Krämer
Emigrierte Historiker und die Historische Zeitschrift ab 1949. Rezensionen als Quellen der Wissenschaftsgeschichte

Christian Fleck
Es begann in Wien: Hilfe für vertriebene Wissenschaftler/innen

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