Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 19. Jg., Heft 2, 2008

Auto/Biographie, Gewalt und Geschlecht

Das spannungsreiche Verhältnis zwischen den Geschichtswissenschaften und dem Genre der Biographie in seinen verschiedenen Ausformungen ist von Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten gekennzeichnet. Auf Seiten der Geschichtswissenschaften ist der Platz der Biographie nicht unumstritten. In den späten 1960er Jahren wurde sie im Zuge der sozial- und strukturgeschichtlichen Wende der deutschsprachigen Historiographie zur veralteten Form der personalisierenden Geschichtsbetrachtung erklärt und galt als letzte Bastion des Historismus. Doch seit etwa zwei Jahrzehnten erlebt sie eine Renaissance und das viel zitierte Unbehagen wich einem neuen Interesse. Es scheint, als ob das Publikum von einer Art »literarischem Kannibalismus« (Ulrich Raulff), von einem Heißhunger auf geschriebenes Leben befallen worden wäre, und wissenschaftliche wie literarische Verlagsprogramme sind voll von Biographien. Die Biographie wird – versehen mit dem Adjektiv »schwierig« – von manchen wieder als »Königsdisziplin« der Geschichtsschreibung
bezeichnet.(1)

Zwei Begründungszusammenhänge können dafür unschwer ausgemacht werden: zum einen die Orientierungslosigkeit angesichts der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche vor und nach der Jahrtausendwende. Die insbesondere mit dem Begriff Globalisierung charakterisierte Entgrenzung der Erfahrungsräume scheint eine Verdichtung im Bedürfnis nach Orientierung im Einzelschicksal zu evozieren. Zum anderen, und damit korrespondierend, machten in den Geschichtswissenschaften respektive den Kulturwissenschaften die Subjekte den Strukturen wieder den Platz streitig. Meist in enger Verknüpfung mit den ebenso kritisch diskutierten Konzepten der Erfahrung und der Identität fungiert das Biographische – je nach Perspektive – als Ergänzung oder Gegenposition zu strukturell argumentierenden Konzepten, wenn etwa generationsspezifische Erfahrungsräume sowie Deutungs- und Erfahrungsmuster historischer Ereigniszusammenhänge untersucht oder aber marginalisierte oder scheinbar unmögliche Identitäten – wie etwa jene der politischen Akteurin im 19. Jahrhundert – und deren Widerstandspotentiale in biographischen Verfahren geborgen werden. In allen diesen Fällen gilt jedoch, dass die Geschichte eines individuellen Lebens nicht das Vergangene erklärt, sondern vielmehr selbst der Erklärung und Deutung bedarf.

Sowohl für die Popularität von historischen Biographien als auch für die immer wieder laut werdende geschichtswissenschaftliche Skepsis dem Genre gegenüber spielt ihre Verflechtung mit dem Modus des Autobiographischen eine nicht zu unterschätzende Rolle. So versprechen auf der einen Seite populäre historische Biographien angesichts auseinander brechender Erfahrungskontexte der Individuen die Restitution von Handlungsfähigkeit und Kohärenz: Wenn dieses Leben sinnvoll, relevant und erzählbar ist, dann kann es auch meines sein. Auf der anderen Seite ist es genau dieses autobiographische Begehren, das in den Geschichtswissenschaften die Frage nach dem Biographischen schnell in den Verdacht bringt, der Wiederaufbereitung einer Illusion den Weg zu ebnen.

Es ist daher nicht zuletzt die Beziehung zwischen Biographie und Autobiographie, die es zu analysieren gilt, wenn das Verhältnis und die Überschneidungen zwischen biographischen und historiographischen Verfahrensweisen und Zugriffen untersucht werden sollen. Dies betrifft etwa den Status der autobiographischen Erzählung als eine wichtige Quelle biographischer Verfahren. Welche Modelle, welche Erzählmuster, welche sozialen Funktionen sind mit der in lebensgeschichtlichen Interviews, in schriftlichen Lebenserinnerungen oder fragmentarischen Egodokumenten erzählten Geschichte über das eigene Leben verbunden? Welche vielleicht auch schwer kontrollierbaren Bedeutungen drängt diese Textsorte der Biographie auf? Ebenso sehr gilt es aber, wie die britische Soziologin Liz Stanley gezeigt hat, das autobiographische Interesse des Biographen/der Biographin in den Blick zu nehmen.(2) So ist die eigene Lebenserfahrung nicht nur unweigerlich eine Ressource biographischen Verstehens, vielmehr ist die Frage nach der Lebensgeschichte eines/einer Anderen immer auch getragen von eigenen Sinnbedürfnissen – seien diese im Entwurf eines Vor- oder Gegenbildes versteckt oder an der Aufklärung verdeckter Verflechtungen der eigenen Biographie mit jener der untersuchten Figur orientiert. Es ist ein Beziehungsinteresse, das biographischen Fragen ihre Kraft verleiht und sie doch zugleich auch ihr Ziel verfehlen lässt.

Anliegen dieses Bandes ist es, auf theoretischer Ebene und/oder im reflektierenden Zugang zu empirischen Arbeiten Konzepte von Biographie zur Diskussion zu stellen. Zwei Themenfeldern, in denen die so unterschiedlichen Interessen am Biographischen besonders häufig aufeinander treffen, wird dabei besondere Aufmerksamkeit zugewandt: der biographischen Thematisierung des Nationalsozialismus und der Frage nach Frauen als politischen Akteurinnen. Die Entscheidung, zwei sehr unterschiedliche thematische Schwerpunkte zu setzen, gründet nicht zuletzt auch in der Überzeugung, dass damit zwei wichtige Kristallisationspunkte auto/biographischer Thematisierung angesprochen sind, denen nicht nur das sowohl geschichtswissenschaftliche als auch große öffentliche Interesse gemeinsam ist, sondern auch ein spezifischer Widerspruch. In beiden Fällen wird die Frage nach der individuellen Biographie genau dort gestellt, wo das auto/biographische Narrativ besonders prekär ist: im Hinblick auf jene, denen so lange der Status des autonomen politischen Subjekts abgesprochen wurde und im Hinblick auf ein System, das dieses autonome Subjekt zugleich ins Monströse übersteigert und vollkommen entwertet hat.

Der Verarbeitung des Nationalsozialismus in vielfältigen Zugriffen auf individuelle Erfahrungs- und Handlungsräume, auf Traumatisierungen ebenso wie auf Generationen übergreifende Tradierungen von Opfer- wie von Schuldpositionen gilt ein Fokus dieses Bandes. Im Versuch, Erfahrungs- und Handlungskollektive zu beschreiben, familiäre und andere Netzwerke der Tradierung aufzudecken, berühren sich populäre und geschichtswissenschaftliche Diskurse – fast symbiotisch manchmal, aber häufig auch konflikthaft. Gemeinsam und doch gerade in dieser Gemeinsamkeit erklärungsbedürftig ist ihnen das Biographische als Ressource in der Auseinandersetzung mit einem Gewaltsystem, das wie kein anderes grundlegende Rechte der Einzelnen negiert hat. Die Zeitgeschichte hat Ereignisse und Politiken zu analysieren und darzustellen, die zum einen in tödlicher Konsequenz Menschen ihre Individualität abgesprochen haben, zum anderen aber mit einem Maß individueller Handlungsmacht Einzelner über das Leben einer großen Zahl von Menschen verbunden waren, wie es historisch bis dahin nicht beschrieben worden ist. In diesen jeder alltäglichen Erfahrung entzogenen Zusammenhängen von Ohnmacht wie von Gewalt wird die Biographie als Darstellungsmodus des Undarstellbaren virulent und zugleich problematisch. Denn die Hoffnungen, die darauf gesetzt werden, verweisen auf ein Konzept der Moderne – jenes des Individuums, das sich im auto/biographischen Narrativ seiner Selbstbestimmtheit versichert –, das wie kaum ein anderes durch die historische Erfahrung des Nationalsozialismus in Frage gestellt wurde. So gilt es zu fragen, ob es nicht genau dieser Widerspruch ist, der das breite Interesse an biographischen Repräsentationen des Nationalsozialismus antreibt und zugleich das fortgesetzte Scheitern der damit verbundenen Sinnbedürfnisse erklären kann. Im Zusammenhang mit biographischen Dokumentationsprojekten zu den Opfern des Nationalsozialismus ebenso wie im Hinblick auf die unterschiedlichen Versuche, Biographien von Tätern und Täterinnen zu erstellen, ist daher und insbesondere nach den damit verknüpften politischen Interessen und Bedeutungen der Biographie als Rahmen der Erzählbarkeit des Unerzählbaren zu fragen.

Ausgehend von der aktuellen Debatte um Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten, in dem ein aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft stammender nationalsozialistischer Massenmörder vorgestellt wird, fragt Michael Wildt in einem historischen Rückblick nach Konjunkturen gesellschaftlicher Diskussionen um NS-Täter und -Täterinnen. Daran anschließend analysiert er unter den Stichworten Strafrecht, Geschlecht, Alltag, Normalität und Generation die Charakteristika der gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit dieser Frage. In kritischer Auseinandersetzung mit rezenten Zugängen der TäterInnenforschung fordert er, die Geschichte der Täter und Täterinnen als Gesellschaftsgeschichte zu konzipieren und den Zusammenhang von Akteuren und Akteurinnen, Institutionen und Praxis im Kontext einer Gesellschaft im Krieg zu untersuchen. Damit muss sich, wie Wildt argumentiert, die Frage nach der gesellschaftlichen Transformation in eine rassistische Volksgemeinschaft verbinden, deren Ungleichheitsprinzipien die gewalttätigen Mobilisierungsenergien von Millionen Deutschen freisetzten.

Während Michael Wildt auf Kategorien der Analyse vorliegender Forschung fokussiert, stellen Christine Müller-Botsch und Karl Fallend in ihren Beiträgen zwei sehr unterschiedliche Methoden der Analyse biographischen Materials zum Nationalsozialismus vor. Ausgehend von einem 1934 verfassten Lebenslauf eines NSDAP-Funktionärs präsentiert Christine Müller-Botsch einen Vorschlag, wie die von Gabriele Rosenthal und anderen zur Analyse narrativer Interviews entwickelte sozialwissenschaftliche Methode der fallrekonstruktiven Biographieforschung auch auf den breiteren historischen Quellentypus des Egodokuments angewandt werden kann. Das im Kontext einer umfassenden Arbeit zu biographischen Hintergründen unterer NSDAP-Funktionäre entwickelte Verfahren wird hier in Einzelschritten exemplarisch vorgestellt. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Kontrastierung von erlebtem und dargestelltem Leben zu, die weniger auf eine Falsifizierung spezifischer autobiographischer Narrative als auf die Kontextualisierung spezifischer Darstellungsstrategien zielt. Ausgehend von dem vorgestellten Fall eines NSDAP-Schulungsleiters aus einem Arbeiterviertel in einer Stadt in Deutschland diskutiert Müller-Botsch die Möglichkeiten und Grenzen einer auf Verallgemeinerung und soziologische wie historische Theoriebildung zielenden Formulierung von Thesen anhand biographischer Fallrekonstruktionen und untermauert den Anspruch biographischer Studien, Gesellschaftsanalyse zu leisten.

Wenn es Anliegen der Soziologin Müller-Botsch ist, historisches biographisches Material durch ein kontrolliertes und in einzelne Arbeitsschritte unterteiltes Verfahren analysierbar zu machen, so zielt der an Georges Devereux’ Angst und Methode anknüpfende ethnopsychoanalytische Vorschlag des Sozialpsychologen Karl Fallend gerade auf die Einbeziehung des Unerwarteten und der Beziehungsmomente in der Auseinandersetzung mit biographischen Erzählungen. Ausgehend sowohl von eigenen biographischen Interviews zur Zwangsarbeit in den Linzer Hermann-Göring Werken als auch mit Bezug auf die Forschung von KollegInnen stellt Fallend eine Reihe von bedeutungsvollen Sequenzen im Forschungsprozess vor, die, wiewohl zumeist als Störung empfunden (oder abgewehrt), den Schlüssel zu zentralen Aussagen und Fragen der Interviewpartner und -partnerinnen bieten können.Die Präsentation und Analyse der als ›empirische Blitzlichter‹ vorgestellten paradigmatischen Irritationen folgt der Entwicklung eines biographischen Forschungsprozesses: von Gesprächsanbahnung und Gesprächsbeginn über die Frage, wer an einem Interview teilnimmt und wo es stattfindet, bis hin zu den unterschiedlichen Rollenerwartungen, die im Interviewprozess auftreten können, und den Schwierigkeiten, die sich beim Schreiben über biographische Zusammenhänge ergeben. Grundlegende Bedeutung misst Fallend dabei der Einbeziehung der beim Forscher/bei der Forscherin ablaufenden Gegenübertragungsprozesse zu. Deren Reflexion ist, so sein Plädoyer, Voraussetzung einer gelingenden Auseinandersetzung mit biographischen Narrativen.

Das andere Feld, in dem geschichtswissenschaftliches Fragen und politisches Interesse in besonderer Weise aufeinander treffen, ist die Suche nach und die Auseinandersetzung mit Frauen als Akteurinnen in politischen Öffentlichkeiten, wie sie die Frauen- und Geschlechtergeschichte in den vergangenen Jahrzehnten vorangetrieben hat. Ging es dabei um die Sichtbarmachung historischer Figuren, die ein späterer androzentrischer Diskurs verdeckt hat, wie auch um die Suche nach widerständigen weiblichen Subjektpositionen in historischen Systemen, die diese Positionen doch scheinbar ausgeschlossen haben, so war damit die Korrektur eines spezifischen historiographischen Blicks und seiner Ausblendungen angesprochen. Feministische Zugriffe auf das Vergangene haben die Perspektivität scheinbar neutraler Tradierungen und Wissensbestände deutlich gemacht. Dabei wirkte die Frage nach individuellen Biographien – sowohl von einzelnen spektakulären Persönlichkeiten als auch von exemplarischen Vertreterinnen einer als anonym gedachten Masse – als eine Kontrastfolie, vor der sich die Beschränktheit kanonisierter historischer Forschungsfragen erst abhob. Feministisch motivierte biographische Verfahren eröffneten jedoch nicht nur neue Perspektiven in der Geschichtswissenschaft. Die dabei entworfenen Biographien haben auch eine breite und ideologisierende Rezeption erfahren, die historische Kontexte der herausgehobenen Akteurinnen ebenso ausblendete wie sie Ambivalenzen und Widersprüche der identifikatorisch vereinnahmten Figuren zudeckte. Solche ambivalenten Effekte biographischer Thematisierungen werfen eine Reihe von Fragen auf. Diese betreffen u. a. die Verflechtungen der Frauen- und Geschlechtergeschichte mit dem Interesse an auto/biographischen Texten, die spezifischen Aufladungen dieses Genres mit Geschlechterbedeutungen wie schließlich auch die so prekär gewordene Frage nach dem feministischen Subjekt.

In diesem historiographischen Kontext setzen sich Gabriella Hauch und Corinna Oesch in ihren Beiträgen mit zwei Protagonistinnen der Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg auseinander, die in der Ersten Republik weiter öffentlich aktiv waren und deren Lebenswege nach der Machtübernahme des Nationalsozialismus durch die erzwungene Zäsur der Emigration geprägt wurden. Gabriella Hauch widmet sich in ihrem Beitrag Therese Schlesinger (geboren 1863 in Wien, gestorben 1940 in Blois bei Paris). Der Ausgangspunkt ihres Schreibens über eine Fremde sind theoretische und methodische Reflexionen über Biographie-Schreiben, wobei ihr Walter Benjamins Formulierung vom »Gemeintsein im Bild der Vergangenheit« als Referenzpunkt dient. Gabriella Hauch bezieht und reflektiert dies auf ihr eigenes Gemeintsein im überlieferten Bild von Therese Schlesinger, sowie in deren theoretischen und politischen Schriften. Vorgestellt wird eine Feministin, Sozialdemokratin und Parlamentarierin jüdischer Herkunft, wobei die Autorin explizit die Festlegung Schlesingers auf eines dieser Narrative der Geschichtsschreibung ablehnt und für größtmögliche Offenheit im Prozess der biographischen Thematisierung plädiert.

Brüche und das multidimensionale Geflecht von Ursache und Wirkung in der auto/biographischen Arbeit sichtbar zu machen ist auch Grundlage für Corinna Oeschs Annäherung an Yella Hertzka (geboren 1873 in Wien, gestorben 1948 nach der Rückkehr aus der Emigration in England wiederum in Wien). Im Zentrum von Oeschs Interesse steht die Verwobenheit von Yella Hertzka in zwischenmenschliche Beziehungen. Dabei geht Oesch auch der Frage nach, auf welche Weise diese Beziehungen ihren eigenen Forschungsprozess – etwa in Form vorgefundener Nachlassstücke, Korrespondenzen etc. – prägen und inwiefern sie selbst als Auto/Biographin involviert ist. Hertzka war Feministin, Pazifistin, förderte Frauen und leitete nach dem Tod ihres Mannes – bis 1938 – den größten österreichischen Musikverlag, die Universal Edition. Konkret nachvollziehbar gestaltet Corinna Oesch ihre theoretischen und methodischen Überlegungen am Beispiel von Freundschaftsbindungen, wie sie in den überlieferten Korrespondenzen zwischen Yella Hertzka und auf den ersten Blick so antagonistisch anmutenden Persönlichkeiten wie der Feministin jüdischer Herkunft Salka Goldmann und der Feministin und späteren deutschnationalen Publizistin Käthe Schirmacher sichtbar werden.

Eine Verbindung zwischen dem Fokus auf die Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus und der Frage nach weiblichen Akteurinnen in politischen Öffentlichkeiten stellt der Beitrag von Johanna Gehmacher her. Ihre Auseinandersetzung mit populären und literarischen Bezugnahmen auf Adolf Hitlers Ehefrau der letzten Stunden, Eva Braun, zielt nicht auf die Herstellung eines biographischen Narrativs, sondern auf die Analyse und Kontextualisierung der unterschiedlichen Gebrauchsweisen dieser historischen Figur, die nach 1945 zu einer Chiffre für privilegierte Einblicke in den Alltag der NS-Elite wurde. Sie untersucht, wie die während der NS-Zeit völlig unbekannte Frau zu einer Ikone des Nationalsozialismus werden konnte, und zeigt, wie anhand dieser Figur Vorstellungen über die Geschlechterverhältnisse im Nationalsozialismus und Fragen nach dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit unter totalitären Bedingungen ebenso thematisiert wurden wie Fragen nach dem (Nicht-)Wissen um die Verbrechen des Regimes.

Das Forum vereint Beiträge, die in modifizierter Weise mit der Heftthematik korrespondieren. Christine Thon greift in ihrem Beitrag zur Selbstkonstituierung als politisches Subjekt eine brisante Thematik des jüngeren und jüngsten feministischen Diskurses auf und diskutiert anhand von zwei Biographien, inwieweit sich die politische Selbstverortung der Frauenbewegten der 1970er und 1980er Jahre von jener der heutigen Töchter- und Enkelinnengeneration unterscheiden. Auch der Beitrag von Iris Wachsmuth führt in die Gegenwart und zeigt an eigenen Forschungsergebnissen wie auch mit Bezug auf Arbeiten von Ela Hornung und Margit Reiter, dass die Einbeziehung des Fokus »Tradierungsweisen von Geschlechterbildern« die in den letzten Jahren erfolgten Darstellungen der nachhaltigen Wirkungsweisen der Familiengeschichten in der NS-Zeit, umfassender und damit neu rezipierbar macht. Der Beitrag von Siegfried Mattl beschließt das Heft und eröffnet gleichzeitig neue Perspektiven: Anlässlich des Jahres 2008 inspiziert er kritisch und in rhapsodischer Form die Rolle und den Stellenwert, der den magisch wiederkehrenden ereignisreichen 8er-Jahren in den Geschichtswissenschaften zugeschrieben wird.

Wenn in diesem Band Beispiele biographischer Forschung aus zwei spezifischen Forschungsfeldern versammelt wurden, so geschah dies aus der Überzeugung, dass theoretische, methodische und empirische Perspektiven nicht voneinander getrennt werden dürfen. Die Beiträge zeigen eindringlich, dass thematische Fragen historischer Forschung, die Entwicklung biographischer Methoden und Theoriebildung zu den miteinander verbundenen Genres der Biographie und der Autobiographie einander gegenseitig vorantreiben. Am Beispiel traumatisierender Gewalterfahrungen wird etwa argumentiert, dass methodische Überlegungen nicht ohne Bezug auf die Inhalte untersuchter Narrative formuliert werden können. Gezeigt wird aber auch, dass die Reflexion des Genres der Darstellung zu einer Rekontextualisierung der darin manifest werdenden historischen Zusammenhänge führen kann. Und nicht zuletzt wird deutlich, dass Biographie und Autobiographie als Formen selbst eine Geschichte haben, zu der biographische Methoden ebenso wie auto/biographische Dokumente in Bezug zu setzen sind.

Zwei – sehr unterschiedliche – Forschungsfelder bilden den doppelten Fokus dieses Heftes: die Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus und Frauen als Akteurinnen zwischen Ausgrenzung und Einschluss in politische Öffentlichkeiten. Damit verbindet sich zum einen die Hoffnung, dass dadurch die sich überschneidenden, miteinander verbundenen methodischen und theoretischen Fragen der Beiträge ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Zum anderen steht dahinter aber auch die These, dass mit Blick auf die öffentlich so präsenten auto/biographischen Dokumente zu diesen thematischen Feldern nicht nur signifikante Konvergenzen sichtbar werden, sondern auch der prekäre Status des Konzepts der Biographie. Wenn es unser Anliegen war, theoretische und methodische Überlegungen dazu voranzutreiben, so glauben wir, dass dies am besten dort gelingen kann, wo ein Konzept an seine Grenzen stößt.

Johanna Gehmacher (Wien)
Gabriella Hauch (Linz)

Anmerkungen

(1) Volker Ullrich, Die schwierige Königsdisziplin, in: DIE ZEIT, 4. April 2007, Nr. 15, 51 f.
(2) Liz Stanley, The Auto/biograpical I. The Theory and Practice of Feminist Auto/Biography, Manchester u. New York 1992.

Inhalte

Michael Wildt
Blick in den Spiegel. Überlegungen zur Täterforschung

Christine Müller-Botsch
Der Lebenslauf als Quelle. Fallrekonstruktive Biographieforschung anhand personenbezogener Akten

Karl Fallend
Unsere Forschung bewegt uns – aber von wo wohin? Nationalsozialismus in biographischen Gesprächen. Empirische Blitzlichter auf ›Angst und Methode‹ im qualitativen Forschungsprozess

Gabriella Hauch
Schreiben über eine Fremde. Therese Schlesinger (1863 Wien – 1940 Blois bei Paris)

Corinna Oesch
Yella Hertzka (1873-1948). Eine Auto/Biographie von Beziehungen

Johanna Gehmacher
»I Never Loved Eva Braun«. Geschichtspolitische Funktionen einer nachträglichen Ikone des Nationalsozialismus

Christine Thon
Selbstkonstituierung als politisches Subjekt. Biographien aus zwei Generationen der Frauenbewegung im Vergleich

Iris Wachsmuth
Geschlechterbilder im intergenerationellen Transfer: Erbschaften aus dem Nationalsozialismus

Siegfried Mattl
»Bedenkjahr 2008«. Fünf mangels offizieller Vorgaben generelle Bemerkungen zur Politik mit der Vergangenheit

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