Die Geschichtswissenschaften ringen nach wie vor mit der Diskursanalyse.
Handelt es sich bei Ihr, wie Philipp Sarasin meint, womöglich um gar »keine
Methode, die man ›lernen‹ könnte, sondern [eher um] eine theoretische,
vielleicht sogar philosophische Haltung«?(1) Ist Achim Landwehr zu folgen,
der einen konkreten methodischen Vorschlag für das Vorgehen bei historischen
Diskursanalysen präsentiert hat?(2) Oder erweist sich die Historiographie
einmal mehr als ›verspätete Disziplin‹, die dem theoretischen und
methodischen Wandel der Sozial- und Kulturwissenschaften hinterherhinkt
und sich im besten Fall des dortigen Methodenrepertoires bedienen kann?(3)
Mit diesem Text rief die ÖZG vor rund einem Jahr zur Diskussion über »Das Gerede vom Diskurs – Diskursanalyse und Geschichte« auf. Publiziert werden sollten Artikel zur Reflexion und Kritik des Diskursparadigmas, der Diskurstheorie und -analyse in den Geschichtswissenschaften. In den Texten sollte es um die Entwicklung und den Stand der Diskursdiskussion in der Historiographie gehen, um konkrete methodologische und methodische Fragen, um die explizite Anwendung diskursanalytischer Methoden sowie die Platzierung der historischen Diskursanalyse entlang der Text/Kontext-Problematik.
Mit über fünfzig eingelangten Abstracts übertraf die Reaktion auf den Call for Papers bei weitem unsere Erwartungen und zeigte, dass wir mit der Thematik einen Nerv der historiographischen Debatte getroffen hatten. Gleichzeitig sprengte das Angebot jedoch den Rahmen einer geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift. Im vorliegenden Heft finden sich deshalb zunächst Beiträge zu theoretischen Fragen von Diskurs und Diskursanalyse. Ende 2006 wird im VS Verlag für Sozialwissenschaften ein Sammelband Historische Diskursanalysen. Theorie, Genealogie, Anwendungen erscheinen, der weitere rund fünfzehn Artikel enthält und sich unter anderem mit Fragen der Genealogie der Diskursanalyse sowie der Anwendung diskursanalytischer Methoden in den historischen Kultur- und Sozialwissenschaften beschäftigt. Die Beiträge dieses Heftes zeigen erneut, dass Michel Foucault nach wie vor den Ausgangspunkt der Diskursdebatte in den Geschichtswissenschaften bildet. Allerdings problematisieren die AutorInnen Unschärfe und methodisch-technische Begrenztheit des Foucaultschen ›Werkzeugkastens‹. Bei der Definition von Diskursen haben sie sich weitgehend angenährt: Unter Diskursen werden in diesem Heft vor allem Praktiken verstanden, die Aussagen zu einem bestimmten Thema systematisch organisieren und regulieren und damit die Möglichkeitsbedingungen des (von einer sozialen Gruppe in einem Zeitraum) Denk- und Sagbaren bestimmen. Welche der involvierten drei Ebenen – textuelle, diskursive und soziale Praktiken – in der Diskursforschung fokussiert wird und wie sie aufeinander bezogen werden, ist allerdings in Diskussion. Ob es sich bei der (historischen) Diskursanalyse um eine bestimmte Methode handelt oder um ein Forschungsprogramm beziehungsweise eine Forschungsperspektive, wird hingegen nicht mehr diskutiert: Diskursanalyse zu betreiben bedeutet heute differente wissenschaftlich ausgearbeitete Methoden und Verfahren einsetzen zu können – je nachdem, welche der drei Ebenen aufgrund von Frage- und Hypothesenstellungen und des vorhandenen Quellenkorpus in den Vordergrund rückt.
Manche der vor allem in den Sozialwissenschaften etablierten Richtungen der Diskurstheorie und -analyse werden in der bisherigen historiographischen Diskussion – und in diesem Heft – weniger berücksichtigt. Das gilt insbesondere für stärker textorientierte Schulen (wie die »Kritische Diskursanalyse« Norman Faircloughs oder den »Diskurshistorischen Ansatz« bei Ruth Wodak), für die pragmatische Richtung (etwa Teun van Dijks) oder die diskursethische Konzeption (im Sinne von Jürgen Habermas). Die Gründe dafür mögen in der Spezifik historischen Materials zu suchen sein, aber auch in teils statisch-synchronen teils idealistischen Diskursbegriffen – und wohl auch an scheinbar unüberbrückbaren Disziplinenschranken. Die im Heft versammelten AutorInnen widmen sich dagegen der Ausarbeitung, Erweiterung und Integration der drei Diskursebenen und der methodischen (sogar untersuchungstechnischen) Modellierung der diskursanalytischen Forschungspraxis. Mit ihren Überlegungen zu den textuellen, diskursiven und sozialen Praktiken problematisieren sie zugleich klassische Begriffspole der Kultur- und Sozialwissenschaften: Text/Kontext, Struktur/Handlung und Diskurs/Subjekt.
Nur einige der im Heft aufgeworfenen Fragen können hier vorweg genannt werden: Wie und mit welchen Begriffen können die zeitlichen Dimensionen von Diskursen gefasst und untersucht werden? Wie bestimmen sich die Grenzen eines bestimmten Diskurses, wie können dessen Persistenz, Wandel und Austausch mit anderen Diskursen gedacht und erforscht werden? Welche Funktion nehmen (historische) Akteure als Produzenten, Distribuenten und Rezipienten von Diskursen ein? Welche Handlungsmöglichkeiten stehen dem ›dezentrierten Subjekt‹ im und gegenüber dem Diskurs offen? Wie ist die vielfach beschworene Interaktivität von Diskursen und Akteuren zu konzipieren? Und wie werden dabei innovative Prozesse in Gang gesetzt? Sind angesichts der Heterogenität historischen Materials überhaupt Vorgaben für diskursanalytische Methoden und Arbeitstechniken möglich? Welche theoretischen und methodischen Angebote verwandter Fächer – insbesondere der Philosophie, Sprachwissenschaft und Soziologie – können für die geschichtswissenschaftliche Diskursanalyse fruchtbar gemacht werden?
Nach Reiner Keller ist vor allem eine wissensanalytische Profilierung der historischen Diskursforschung notwendig, um so die Kluft zwischen theoretischer Haltung und empirischer Sprachforschung überbrücken zu können. Mit Foucault versteht Keller unter Diskursen Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Bei der Diskursanalyse werden »Prozesse der sozialen Konstruktion und Vermittlung von Deutungs- und Handlungsweisen auf der Ebene von institutionellen Feldern, Organisationen und sozialen Akteuren« rekonstruiert. Folgerichtig präsentieren sich konkrete Diskurse für die HistorikerInnen nicht als
ontologische Objekte, sondern als hypothetische Strukturierungszusammenhänge von Aussagen samt den in deren Produktion, Distribution und Rezeption involvierten Akteuren. Unter Berufung auf Bourdieu und Giddens konzipiert er die postulierte Relation von Diskurs und Akteur – seine Ausführungen über Sprecherpositionen, Identitätsangebote und soziale Akteure machen deutlich, dass hier vor allem soziologische beziehungsweise sozialgeschichtliche Fragestellungen adressiert werden. Für das methodische Vorgehen bei der wissenssoziologischen Diskursanalyse schlägt Keller eine »interpretative Analytik« vor, bei der Deutungsmuster, Klassifikationen, Phänomen- beziehungsweise Themen- sowie narrative Strukturen im Mittelpunkt stehen.
Peter Haslinger plädiert für eine erweiterte »Diskursgeschichte«, indem er einmal die gegenwärtigen Problemstellungen resümiert: Fragen der Korpusbildung und Repräsentativität, der Grenzziehung, zentraler und peripherer Diskurspositionen, die Rolle des Subjekts, das Ordnungskriterium der Zeit sowie die Bedeutung der narrativen Identität stünden auf der Tagesordnung. Unter Heranziehung der kommunikationswissenschaftlichen Propaganda-, Diffusions- und Rezeptionsforschung fokussiert er performative Aspekte von Diskursen, etwa die Drohung mit nichtsprachlichen Mitteln und begleitenden (Gewalt-)Handlungen. Der begrifflichen
Schärfung dient sein Vorschlag, den Diskursbegriff in der empirischen Arbeit möglichst präzise und sparsam einzusetzen sowie Begriffe wie »Thema« und »Debatte« definitorisch zu klären. Fragen der Distribution und Breitenwirkung wie der Trägermedien von Diskursen zu behandeln ist in Haslingers Erweiterungsprogramm genauso vorgesehen wie die Berücksichtigung sprach- und zeitüberbrückender Redesysteme. Wie Keller stellt auch Haslinger eine modellhafte Vorgangsweise für das diskursanalytische Arbeiten zur Diskussion.
Der Grenzziehung und Transformation historischer Diskurse – die Frage, warum in einem Diskurs nur bestimmte Aussagen erscheinen und andere, im semantischen, lexikalischen und grammatikalischen Spektrum einer Zeit ebenfalls verfügbaren unberücksichtigt bleiben beziehungsweise unterdrückt werden – nimmt Rüdiger Graf zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Er spricht sich für die Verbindung des angloamerikanischen, akteursbasierten und des französischen, unpersönliche Sprachstrukturen voraussetzenden Diskursbegriffes aus – und zwar mit Hilfe der Theorie »Radikaler Interpretation«, die vor allem Donald Davidson vertritt. Demnach ist als Grundlage einer gelingenden Kommunikation und des bedeutungsvollen Gebrauchs von Worten eine Dreiecksbeziehung von Sprecher, Interpret und Welt vorauszusetzen. Beim Spracherwerb werden keine autonomen Regeln angeeignet, sondern bestimmte Annahmen über die Welt, die angesichts ›besserer‹ Weltbilder (wenn auch nur langfristig) ersetzt werden können. Bei der Diskursanalyse sollten damit die zentralen, von den meisten Teilnehmern implizit oder explizit für wahr und unproblematisch gehaltenen Annahmen eruiert werden. Diskursiver Wandel wiederum würde sich dort abzeichnen, wo die Sprecher diese Grundannahmen problematisieren. Jedoch auch in der Radikalen Interpretation würden sich die Grenzen von Diskursen nicht aus der Absteckung der (letztlich unüberschaubaren) Grundannahmen einer Zeit ergeben, sondern entlang von Forschungsfragen und -hypothesen.
Andreas Frings und Johannes Marx geht es um eine handlungstheoretische Fundierung der Diskursanalyse. Sie verstehen Sprechen als sprachliches Handeln, das denselben Mustern folgt wie jede Form des Handelns. Bei der Diskursanalyse müssten Äußerungen als Produkte subjektiv rationaler Wahl aus Äußerungsalternativen verstanden werden. Ebenfalls in Anschluss an Davidson meinen die Autoren, dass Interpreten dem Sprecher dabei zwar nicht ›wahre‹, aber zumindest ›begründete‹, das bedeutet von diesem für wahr gehaltene Überzeugungen unterstellen können. Bei der Diskursanalyse müssten Äußerungen dann entsprechend des sprachlichen Kontexts gedeutet werden, Diskurse folgten den Regeln des Sprechens im sozialen Kontext: »Da der einzelne Sprecher in der Regel das Ziel verfolgt, verstanden zu werden, wählt er Äußerungen, die im gegebenen sozialen Kontext verständlich sind.« Prozeduren, nach denen bestimmt wird, was in Diskursen sagbar ist und was ausgeschlossen bleibt, werden von den involvierten (sozialen) Akteuren vorgegeben. Deren soziale Rationalität beziehungsweise ›Eigenlogik‹ ließe sich in der historischen Analyse anhand der Kriterien der ›Alltagspsychologie‹ entschlüsseln. So kommt der in der Historiographie beliebte Intentionalismus ins Spiel: Nur wenn dem ›alltäglichen‹ Sprechen eine Intention samt einer geteilten sozialen Rationalität unterstellt wird, ist bedeutungsvolles und damit gelingendes Handeln und Kommunizieren möglich.
Ein weiteres Desiderat der historischen Diskursforschung stellt die Wirkung von Diskursen auf historische Akteure dar. Auch wenn diese heute nicht mehr als passive und entscheidungsunfähige Diskursmarionetten gesehen werden, bleiben ihre Konturen weiterhin unterbestimmt. Zumeist werden für sie durch Diskurse geprägte, aneignungsfähige Subjektpositionen, Wissensformationen, Deutungen und Normen parat gehalten, gegen und für die sie sich entscheiden, die sie aber auch modifizieren und damit ihrerseits auf den Diskurs rück/einwirken können. Wie dies im konkreten Fall geschieht, ist bislang wenig diskutiert. Claudia Bruns führt am Beispiel des Männerbunddiskurses im Wilhelminischen Kaiserreich ein Stück weit vor, wie sich die Trias von Wissen-Macht-Subjekt als gültige Definition bestimmter männlicher Wirklichkeit durchsetzen und dem Einzelnen als ›authentisches‹ und ›persönliches‹ Subjektivierungsangebot präsentieren konnte. Die maskulinistischen Theoretiker führten dabei Strategien und Wissensstränge der Homosexuellenemanzipation, der Freudschen Psychoanalyse, aber auch solche anthropologischer und rassenhygienischer Provenienz im Konstrukt eines essentiellen mann-männlichen Eros zusammen. Sie schufen damit eine für die Mitglieder der Wandervogelbewegung stimmige ›intime‹ Wahrheit, »die das Subjekt anreizte, sich in diesem schmeichelhaften und modernen Spiegel zu betrachten und gleichzeitig seine soziale Distinktion, seinen geschlechtlichen und rassistischen Ein- und Ausschluss konstituierte«. Zu diskutieren bleibt, wann und warum selbst mächtigste Diskurse an den widerspenstigen Erfahrungen der Akteure scheitern konnten und wie deren abweichende Interpretationen in den diskursiven Prozess rückgebunden wurden.
Im Forum dieses Heftes zeigt Markus Stauff in einem Review Artikel, dass auch die Mediengeschichte von einem diskursorientierten Ansatz profitieren kann, was allerdings in den Medienwissenschaften selbst heftig umstritten ist. Einige von deren Ansätzen behandeln Medien nicht mehr als vorgängige und vorauszusetzende Gegenstände (etwa als technische Kommunikationsobjekte), sondern als in Diskursen und durch Diskurse konstituiert und wirksam gemacht. So gesehen, ergeben sich erst durch die diskursive Verflechtung von Apparaten und sozialen Praktiken die konkreten kommunikativen Einsatzmöglichkeiten und ›Handhabungen‹ einzelner Medien. Aufgabe einer den eigenen Gegenstandsbereich (mit-)reflektierenden Mediengeschichte sei es demnach, die diskursive Konstruktion der Medien und nicht das ›Gerede‹ über diese zu erforschen.
Um methodische Selbstreflexion in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen ging es auch Ende April 2005 beim Workshop »Endlich Ordnung in der Werkzeugkiste. Zum Potenzial der Foucaultschen Diskursanalyse« an der Freien Universität Berlin. Dabei hat sich, so Susanne Lettow, die Heterogenität des Foucaultschen Instrumentariums als große Stärke zur Vermeidung vorschneller Kanonisierung und Schulenbildung erwiesen. Auch bei diesem Workshop wurde jedoch deutlich, dass die Konkretisierung zentraler Foucaultscher ›Werkzeugbegriffe‹ und deren theoretische Inbezugsetzung noch keineswegs von der Aufgabenliste der Diskurswissenschaften zu streichen sind. Angeregt wurden zudem Konfrontationen und Integrationen von Begriffen aus dem theoretischen Repertoire der Kultur- und Sozialwissenschaften – etwa von Begriffen Foucaults und den mehr handlungs- und prozessorientierten Ansätzen von Bourdieu, Berger oder Luckmann – sowie eine Reflexion über die Grenzen des Diskurses und der Diskursanalyse.
Nicht unmittelbar auf die Foucaultsche Richtung der Diskursanalyse, sondern auf Kosellecks »Begriffsgeschichte« und die »New Intellectual History« bezieht sich das Internationale Graduiertenkolleg »Politische Kommunikation«. Nach Astrid von Schlachta rückt aber auch dort die Text/Kontext-Problematik in den Vordergrund: Von der Antike bis zur Gegenwart werden in den laufenden Forschungsarbeiten die politische Kommunikation in Europa als gesellschaftliche Orientierungsleistung und als Wandel von Normen in allen sprachlichen und zeichenhaften Erscheinungsformen begriffen sowie politische Sprachen und Herrschaftslegitimationen in einem interaktiven Zusammenhang interpretiert.
KritikerInnen beklagen nach wie vor die inflationäre Verwendung des Diskursbegriffs und erklären ihn zum umbrella term, Mode- und Allerweltsbegriff, dessen theoretische und methodische Unbestimmtheit ihn für den wissenschaftlichen Sprachgebrauch disqualifiziere. Die Diskursbeiträge dieses Heftes belegen jedoch, dass in dieser Debatte noch lange nicht die letzten Worte gesprochen sind.
Franz X. Eder (Wien)
Anmerkungen
(1) Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt am Main 2003, 8.
(2) Vgl. Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001, 103 f.
(3) Vgl. Reiner Keller, Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Wiesbaden 2004; u. ders. u.a., Hg., Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursforschung, 2 Bde., Opladen 2001 u. 2003.
Reiner Keller
Wissen oder Sprache? Für eine wissensanalytische Profilierung der Diskursforschung
Peter Haslinger
Diskurs, Sprache, Zeit, Identität. Plädoyer für eine erweiterte Diskursgeschichte
Andreas Frings/Johannes Marx
Wenn Diskurse baden gehen. Eine handlungstheoretische Fundierung der Diskursanalyse
Markus Stauff
Mediengeschichte und Diskursanalyse. Methodologische Variationen und Konfliktlinien
Astrid von Schlachta
Politische Kommunikation in Europa. Theorie und Praxis im Internationalen Graduiertenkolleg »Politische Kommunikation«