Was ist ein Fremdkörper? Ich schreibe diese Zeilen an dem Tag, an dem bekannt wurde, dass die Attentäter von London – vier Selbstmordanschläge auf das öffentliche Transport-System im Juli 2005 mit rund 50 Toten – in der naturalisierten pakistanischen Mittelschicht von Leeds aufgewachsen waren und weder der Polizei noch ihren Nachbarn und Freunden je als extremistisch oder gewaltbereit aufgefallen wären. Sie waren stolz darauf, Briten zu sein, spielten Kricket oder engagierten sich als Lehrer und Sozialarbeiter für schwierige Jugendliche. Gleichzeitig lief vor kurzem weltweit am selben Tag Steven Spielbergs Blockbuster War of the Worlds an, dessen Innovation gegenüber dem literarischen Vorbild darin besteht, dass hier die Aliens in Gestalt ihrer riesigen, dreibeinigen metallenen Hüllen, in denen die Marsbewohner eines schönen Tages zu Beginn des 21. Jahrhunderts wie losgelassene Furien aus dem aufbrechenden Asphalt fahren, schon seit sehr langer Zeit in der Erde verborgen waren. Auch wenn – so die Filmfiktion – die zerbrechlichen Körper beziehungsweise vor allem Gehirne der Marsmenschen erst kurz vor der Attacke mittels riesiger Blitze in die in der Erde verborgenen Maschinen transportiert wurden, sind diese tödlichen Maschinen doch seit langem schon da gewesen und haben auf ihren Einsatz gewartet: verborgen, heimlich – und buchstäblich unter uns.
Während allerdings die Filmfiktion nichts weiter als ein Schauermärchen ist, das gut zum ideologischen Konzept des war on terror passt, ist die Figur der stillen und freundlichen Attentäter aus Leeds irritierender. Was sind sie? »Schläfer«? Das heißt kalt berechnende Feinde, die schon vor längerer Zeit rekrutiert wurden, die jahrelang Undercover lebten, so wie ehemals die Agenten des Kalten Krieges, die langsam aufgebaut wurden für eine Karriere in der Regierungsbürokratie des Feindes, um dann, nach Jahrzehnten oben angekommen, Verrat zu begehen? Die Geschichte von Leeds erzählt von etwas anderem: Sie waren normale, in Großbritannien geborene, mehr oder weniger gut integrierte Jungs – wie hunderttausend andere auch –, die sich mehr für Sport als für Politik interessierten, dem Vernehmen nach in den letzten zwei Jahren aber zunehmend auch für Religion. Sie waren keine Feinde und keine Fremden – sie waren keine »Fremdkörper«, und doch gaben sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ihr Leben dafür, der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen waren, maximalen Schaden zuzufügen. Sie wurden irgendwann, wahrscheinlich
nicht allzu lange vor den Anschlägen, von Unbekannten rekrutiert, nachdem sie in den Einflussbereich fundamentalistischer Religion geraten waren. Von dem Zeitpunkt an wurden sie ihrer Gesellschaft gegenüber »fremd«, zu Todfeinden einer Lebensweise, die zuvor noch ihre eigene gewesen war.
Zum Rätselhaften, das dem Nachdenken über »Fremdkörper« sich sperrig in den Weg legt, gehört dieser Übergang vom manifest Eigenen zum Fremden. Ob dabei allerdings das »Fremde« als ein Phänomen erscheint, das sich tatsächlich vom »Eigenen« unterscheidet, oder ob es als eine bloße Konstruktion dekonstruiert wird – etwa als ein rassistisches Phantasma –, ist eine Frage des Standpunktes. Gewiss ist nur, dass das Fremde und das Eigene nicht zweifelsfrei und trennscharf zu unterscheiden sind. Der Genealoge Michel Foucault hat dies in die radikal nominalistische Formel gefasst, dass »nichts am Menschen – und auch nicht an seinem Leib – so unveränderlich ist, dass man die andern dadurch begreifen und sich selbst in ihnen wieder erkennen könnte«:(1) Es ist nichts am Menschen, an seinem Leib, seinem Körper, das so unveränderlich, so sehr »er selbst« wäre, dass man es jederzeit und immer schon als »eigen« oder »fremd« erkennen könnte. Es gibt weder einen identitären Wesenskern des Eigenen noch des Fremden.
Daher scheint die Geschichte der vier Attentäter von Leeds zuallererst einen durchgängigen Befund auch der meisten Texte in diesem Heft zu bestätigen: dass »Fremdkörper« auf eine schwer zu fassende Weise weder fremd noch nicht-fremd sind und dass genau darin ihre große Wirksamkeit liegt. Der Fremdkörper ist das, was sich begrifflicher Zuordnung entzieht, und darin ist auch die Beschäftigung mit ihm schwierig. Eva Johach (Berlin) zeigt am Beispiel der Konzeptualisierung von Tumoren in der Medizin des 19. Jahrhunderts, dass Rudolf Virchow wohl postulieren musste, dass der Lebensprozess von Krebszellen ebenso »natürlich« ist wie jener aller anderen Zellen auch und dass dennoch der irritierende Umstand zu deuten war, wieso diese sich plötzlich gleichsam dafür entscheiden, pathologisch zu werden. Auf einer ganz anderen Ebene – und doch mit semantischen Interferenzen, die man wie ein Augenflimmern verscheuchen und wie ein Vexierbild auflösen möchte, weil man weiß, dass es »bloße Metaphern« sind, die einen verführen … – schildert Gerd Koenen (Frankfurt am Main), der etwas über die eigene Rolle als jemand zu erzählen hat, der »innen« und »außen« zugleich lebte und lebt, wie in Deutschland in den späten 1960er Jahren terroristische »Gruppen« entstanden sind, gebildet von Menschen, die sich so oder anders entscheiden konnten, ohne durch »strukturelle« Notwendigkeiten dazu gezwungen zu sein. Gleichzeitig aber geschah dies allerdings auch alles andere als zufällig, sondern als sehr signifikanter Ausdruck bestimmter psychosozialer Dynamiken in der westdeutschen Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg – die RAF war »fremd« und »eigen« zugleich. Sowohl im manichäischen Weltbild der Terroristen aller Provenienz und Couleur, die sich gegen die Vermischungen
und Verunreinigungen der Moderne auflehnen und im radikalen Selbstermächtigungsgestus alle ihre prätentierten Feinde für »tötbar« erklären, als auch in den totalitären Utopien des 20. Jahrhunderts mit ihrem Begehren nach einer von aller Differenz »gereinigten« Gesellschaft zeigt sich dann aber, was es heißen würde, den Fremdkörper ganz auszutreiben. Daniel Weiss (Zürich) lässt die Resultate einer groß angelegten linguistischen Studie zur politischen Sprache in der Sowjetunion wie in einem schaurigen Kaleidoskop Revue passieren: Es ist die Sprache eines ideologisch-politischen Systems, dass errichtet wurde, um die Gesellschaft vollständig neu und frei von »Feinden« aller Art wieder aufzubauen, nachdem das alte »System« zerstört werden sollte und auch weitgehend zerstört wurde.
Es gibt gegenüber dem Fremdkörper keine eindeutige, widerspruchsfreie Haltung. Er ist fremd genug, um nicht eine billige Versöhnung zuzulassen, und zugleich erweist er sich jeweils immer auch so sehr als »nicht-fremd«, als Teil des Eigenen, dass seine Austreibung verheerende Folgen hätte. Damiano Cantone (Triest) kann in seiner Rezension von Robert Espositos Buch Immunitas deutlich machen, dass das Streben nach Immunität als Versuch gelesen werden kann, keinen gemeinsamen munus zu teilen, das heißt keine gemeinsamen Verpflichtungen zu übernehmen, während es doch darauf ankäme, dass eine Gesellschaft sich nicht »immun« und »rein« hält, frei von Verpflichtungen und Abhängigkeiten von Anderen, sondern vielmehr das Fremde als Teil ihrer selbst begreift. Casey Alt (Durham, N.C.) zeigt auf einem etwas anderen Feld sogar, wie sehr Computerviren, obwohl sie ohne Zweifel Schäden in elektronischen Systemen anrichten können, weit weniger die große Bedrohung der weltweiten Datennetze und -systeme darstellen, als dass sie selbst der entscheidende trigger des »viralen Kapitalismus« sind, der Motor einer von Informationssystemen abhängigen Ökonomie. Auf eine wiederum sehr irritierende Weise argumentiert auch Myriam Spörri (Zürich), dass die keineswegs metaphorisch gemeinten Ängste vor der »Infektion« des »germanischen Blutes« mit »jüdischem Blut« in der Weimarer Republik zu einem zentralen Phantasma und Antrieb der nationalsozialistischen Bewegung wurden, zugleich aber die Wissenschaft der Seroanthropologie und die Blutgruppenforschung genau in jenen diffusen Übergängen zwischen metaphorischen und begrifflich-wissenschaftlichen Redeweisen entstand. Der literarische »Fremdkörper« im wissenschaftlichen Text war für diesen ebenso konstitutiv wie wissenschaftliche Resultate für die Propaganda der völkischen Presse. Die Überlegungen von Marianne Hänseler (Zürich) zur jüngeren Theoriegeschichte der Metapher weisen denn auch in die Richtung, dass zwar der ehemals von der Wissenschaft ebenso bewusst wie de facto erfolglos ausgeschlossene semantische Fremdkörper der so genannten »uneigentlichen« Rede heute in den Science Studies als unverzichtbares Analyseinstrument beziehungsweise als unumgängliche
Analyseebene integriert wurde, ohne dass es sich damit allerdings als sinnvoll erweisen würde, die Metapher gänzlich in den Kreis der anständigen Begriffe aufzunehmen, die brav zu ihrer Identität stehen: Der für die Sprache wahrscheinlich sogar konstitutive Mechanismus der metaphorischen Übertragung von Sinn von einem Kontext auf einen andern funktioniert nur, wenn zumindest an der Fiktion der Möglichkeit einer Fixierung von Bedeutungen und damit der Unterscheidung von Begriff und Metapher festgehalten wird – und doch zugleich mit Derrida festgestellt werden muss, dass jede sprachliche Äußerung den metaphorischen und metonymischen Bewegungen der différance unterliegt.
Sachlav Stoler-Liss und Shifra Shvarts (Bersheba) schreiben über einen Körper, der im Leib der Frau tatsächlich immer und natürlicher Weise als Fremdkörper wächst, in welchem sich ihr eigenes und fremdes genetisches Material mischen und der nach einiger Zeit aus ihr herausgestoßen wird. Wenn sich eine Frau zur Abtreibung entschließt, dann erscheint ihr der Foetus wahrscheinlich stärker als Fremdkörper, als wenn sie seine merkwürdigen Bewegungen bis zur Geburt in sich spürt und geschehen lässt. In einem Staat nun, der in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in einem Raum und in einer Weise entstanden ist, die so sehr historisch und kulturell überdeterminiert sind, dass man gar nicht anfangen soll, unser Thema hier abermals ins Metaphorische zu verlängern, weil dies längst geschehen ist (was selbstverständlich zugleich falsch und richtig, unangemessen und angemessen ist), können auch die Autorinnen darüber nur schweigen und einzig davon berichten, dass die Auseinandersetzungen um die Abtreibung in Israel immer auch ein Kampf um Geburtenraten im Rahmen eines Nation-Building-Prozesses war, und das heißt:
ein Kampf mit einer »anderen« Geburtenrate, ein Kampf aber auch, der immer wieder »in’s Eigene« gewendet wurde, indem zum Beispiel durchaus nicht alle jüdischen Geburten so willkommen waren wie jene der europäischen Einwanderer. Auch wenn die Schlussfolgerungen der Autorinnen hinsichtlich des Einflusses religiösorthodoxer und schlicht patriarchalischer Anschauungen in der Abtreibungsfrage im heutigen Israel sehr skeptisch sind, so gilt dennoch, dass Israel und Palästina vielleicht jenes für uns alle entscheidende – für viele gar auf Leben oder Tod entscheidende – politische »Experiment« darstellen, in welchem neue Vorstellungen dessen sich entwickeln müssen, wie man mit Menschen leben kann, die man wechselseitig als Fremdkörper empfindet.
Philipp Sarasin (Zürich)
Anmerkung
(1) Michel Foucault, Schriften in vier Bänden (Dits et Ecrits). Herausgegeben von Daniel Defert und
François Ewald, Frankfurt am Main 2001-2005, Bd. II, 179.
Myriam Spörri
»Jüdisches Blut«. Zirkulationen zwischen Literatur, Medizin und politischer Presse, 1918-1933
Sachlav Stoler-Liss/Shifra Shvarts
»Die medizinischen Gründe sind, wie Sie alle wissen, höchst subjektiv«. Schwangerschaftsabbruch, Ärzte und der Prozess des Nation-Building in Israel
Gerd Koenen/Philipp Sarasin
Die Utopien lassen frösteln. Ein Gespräch über die Sowjetunion, die RAF, Deutschland und die Fremdkörper
Philipp Sarasin
Ausdünstungen, Viren, Resistenzen. Die Spur der Infektion im Werk Michel Foucaults
Daniel Weiss
Ungeziefer, Aas und Müll. Feindbilder der Sowjetpropaganda
Marianne Hänseler
Die Metapher in den Wissenschaften. Die Assimilierung eines Fremdkörpers in den epistemologischen Konzepten der
Science Studies
Damiano Cantone
Zu Roberto Espositos Immunitas