Europäische Ethnologie, das ist – je nachdem, ob man sein Augenmerk auf Kontinuitäten oder Veränderungen legen will – eine alte oder aber eine sehr junge Disziplin. Sie steht einerseits unzweifelhaft in der Tradition der Volkskunde, jenem als Funktion und Agentur von Differenzierungsprozessen der Moderne zu verstehenden Fach, das sich seit dem späten 19. Jahrhundert, philologisch-folkloristische und ethnographische Interessen verbindend, institutionell entwickeln konnte und dessen Grenzen heute in theoretischer und methodischer Sicht in Vielem erreicht zu sein scheinen. Und sie ringt andererseits gerade im deutschsprachigen Raum darum, den neuen Namen nicht allein auf eine Internationalisierung und Entnationalisierung beschränkt zu wissen, sondern mit der Befragung ihrer epistemologischen Voraussetzungen und Konsequenzen einen notwendigen Neuorientierungsprozess
voranzutreiben.
Die Bezeichnung ›Europäische Ethnologie‹ geht in die 1950er Jahre zurück: Von Skandinavien ausgehend, sollte Europäische Ethnologie die nationalen Volkskunden – die Wissenschaften vom Eigenen also – in einen internationalen Kontext einbinden und sie gleichzeitig inhaltlich ein gutes Stück ›anthropologisieren‹. Sozialwissenschaftliche Fragestellungen, Themen und Methoden zogen in das Fach ein. Im deutschsprachigen Raum ist diese Konzeption zunächst weitgehend nicht nachvollzogen worden, eine ›modernisierte‹ Volkskunde folgte hier dem Alltagsparadigma der Geschichtswissenschaften und verlor damit andere Felder und Zugänge aus den Augen.
Heute erlebt Europäische Ethnologie eine erstaunliche, wenngleich inhaltlich unpräzise gebliebene Konjunktur, ersetzt sie doch zunehmend und nicht zuletzt unter dem Eindruck gegenwärtiger Europäisierung die alte Bezeichnung Volkskunde. Damit ist ein Nachdenkprozess verbunden, der auch von zahlreichen – bisher meist fachimmanent gebliebenen – Selbstvergewisserungen begleitet wird. In diesem Band geht es daher einmal nicht um eine aufs große Ganze drängende Standortbestimmung von Europäischer Ethnologie in einem deutschsprachigen Horizont, sondern um die Vorstellung ausgewählter, im Fach vorgenommener Sichtungen für historisch-kulturwissenschaftlich Interessierte. Die dazu versammelten Beiträge unterziehen sich diesem Vorhaben ebenso theoretisch wie in Bezug auf die untersuchten Felder. Wenn sie dabei den Anschluss an die großen Themen des Faches
aus der Vergangenheit – wie Erzählen, Brauch und Sitte oder Sachkultur – suchen, dann nicht, um diese fortzuschreiben oder nach Äquivalenten für verloren geglaubte Terrains zu suchen, sondern weil sie aus der vorsichtigen Sortierung disziplinären Wissens und seiner Konfrontation mit neuen Paradigmen Ansätze entwickeln wollen, mit denen sich die für eine Analyse der komplexen Kulturprozesse europäischer Alltage notwendige analytische Schärfe gewinnen lässt.
Der erste Text des Bandes – Der Orient in uns – wirft denn auch neues Licht auf den vielleicht ältesten, auf jeden Fall aber als erstes international entwickelten und europäisch vernetzten Forschungszweig der Volkskunde, die Folkloristik bzw. die in ihrer (philologischen) Tradition stehende Erzählforschung. Der Islamwissenschaftler und Redakteur des auf diesem Gebiet angesiedelten Großprojektes der »Enzyklopädie des Märchens«, Ulrich Marzolph (Göttingen), untersucht vor dem Hintergrund der im Begriff des Orientalismus aufgehobenen Kulturbeziehungen des westlichen Europa zum Orient die gegenseitige narrative Konstruktion von
Orient und Okzident. Dabei richtet er seinen Blick nicht nur auf den Beitrag orientalischer Überlieferungen zu einer Konstituierung europäischer Erzähltraditionen, sondern verweist auch auf das interkulturelle Potential solchen Erzählguts für eine Erforschung hybrider kultureller Alltage und der aktuellen Prozesse von Interaktion und Integration in Europa.
Die narrativistische Tradition gewissermaßen erweiternd, diskutiert Brigitta Schmidt-Lauber (Hamburg/Wien) am Thema der ›Gemütlichkeit‹ Zugangsweisen zu in Erzählungen kaum fassbaren alltäglichen Orientierungen und Praktiken. Das Ergebnis überraschend wenig differenzierter Vorstellungen von Gemütlichkeit bei den von ihr Befragten nimmt Schmidt-Lauber zum Anlass, die Grenzen gegenwärtiger Verfahren der Alltagsforschung – wie des qualitativen Interviews – auszuloten. Darüber hinaus fragt sie nach den Möglichkeiten einer Europäischen Ethnologie bei der Untersuchung subjektiver alltäglicher Befindlichkeiten und skizziert die theoretischen Voraussetzungen einer Ethnographie des unausgesprochen Selbstverständlichen.
Mit dem Beitrag von Gudrun König (Tübingen) zur Analyse materieller Kultur gerät ein ähnliches Problem und zugleich ein weiteres klassisch zu nennendes Feld der Volkskunde in den Blick: ein Feld, das gegenwärtig in der Europäischen Ethnologie wie in den neuen Kulturwissenschaften gesteigerte Aufmerksamkeit erfährt. Auch König verbindet ihre grundsätzlichen Überlegungen mit einer Fallstudie – diesfalls über den Stacheldraht als einem modernen Disziplinierungsmittel, an dessen zivilen und militärischen Umgangsweisen sich kulturelle Einschreibeprozesse und Symbolisierungsformen analysieren lassen. Im Zentrum ihrer Argumentation steht aber die Auseinandersetzung mit dem in der Volkskunde entwickelten Prinzip der »Dingbedeutsamkeit«, dessen Tragfähigkeit König überprüft und erweitert, um über instrumentelle Bezüge und subjektive Zuschreibungen hinaus Beziehungsstrukturen zwischen Menschen und Dingen – Mentalitäten, Affekte und Handlungsweisen – verständlich machen zu können.
Um die produktiven Unschärfen einer Kulturanalyse des Alltags kreist auch der Beitrag von Johanna Rolshoven (Zürich) Europäische Ethnologie – Diagnose und Prognose einer kultur- und sozialwissenschaftlichen »Volkskunde«. Nehmen die Untersuchungen von Schmidt-Lauber und König konkrete Felder zum Anlass ihrer Vermessungen, so ist es hier das Verschwinden der Gegenstandsgrenzen zwischen den beiden in der Europäischen Ethnologie zusammenfließenden Wissenschaftstraditionen – durch die kulturellen Dynamiken in Europa. Rolshoven fragt nicht nach dem Trennenden zwischen der Kultur- und Sozialanthropologie, wie sie sich lange auf das nichteuropäisch Fremde konzentrierte, und der Volkskunde, die ihre Zuständigkeit bis in die jüngste Zeit auf das europäisch Eigene beschränkte, sondern nach gemeinsamen Voraussetzungen und Herausforderungen. Ihre Antworten findet sie einerseits in den Grenzbereichen, in denen sich die Interessen der auf Alltagskultur fokussierenden Fächer bewegen, andererseits in einem dem Gegenstand der Kultur entsprechenden prozessualen Konzept, das »systematische Unsystematiken«
reflektiert und im Forschungsprozess produktiv einzusetzen weiß.
Das veränderte Europa steht schließlich auch am Ausgangspunkt des Beitrags von Peter Niedermüller (Berlin), allerdings weniger mit allein fachwissenschaftlichem, methodologischem Horizont als mit der Frage nach den Veränderungen des kulturellen Konzepts vom »neuen Europa«. Dahinter steht das Postulat, Europa nicht nur als Feld zu begreifen, in dem sich forschen lässt, sondern vielmehr als einen kulturellen und historischen Horizont, in dem die Analyse der europäischen Moderne zu erfolgen hat. Seine Beispiele findet der Beitrag in der symbolischen Topographie des Kontinents im Sinne der Konstruktionen von »Ost« und »West« und im Befund der »multiplen Modernen«, und damit zielt er wiederum auf die Analyse der Gleichzeitigkeiten und Dynamiken europäischer Alltage nach 1989.
Europäische Ethnologie ist ein offenes Fach mit weichen disziplinären Konturen. Und so ist es nur konsequent, dass in diesem Heft nicht nur Europäische Ethnologinnen und Ethnologen zu Wort kommen. Der Aufsatzteil wird abgerundet vom Beitrag eines Historikers: Peter Payer (Wien) untersucht den Klang der Stadt, eine quellennahe stadt- und kulturgeschichtliche Anwendung von Frage- und Zugangsweisen, die das kulturwissenschaftliche Fächerspektrum heute verbinden. Payer untersucht die Entstehung und Wirkung von Klangräumen im Prozess der Urbanisierung und wirft so ein erhellendes Licht auf die alltagsweltliche Wahrnehmung, Erfahrung und Konstituierung des Raumes in der modernen Stadt.
Das Forum schließlich vereint Rückblicke und Ausblicke auf die Herausforderungen, denen sich eine um Profil und Analysefähigkeit ringende Europäische Ethnologie zu stellen hat. Silke Göttsch (Kiel) stellt in ihrem Text Europäische Ethnologie/Volkskunde und ihre Quellen wichtige historische Großprojekte der Volkskunde vor. Sie plädiert für einen reflektierten Umgang mit den oft problematischen Quellen des Faches wie auch für eine forcierte Auseinandersetzung mit der Geschichtlichkeit disziplinären Wissens. Sabine Hess (Frankfurt am Main) leistet in ihrem als Sammelrezension zu verstehenden Beitrag Transnationalisierung und kulturanthropologische
Migrationsforschung eine über die bloße Literaturschau hinausgehende Auseinandersetzung mit den theoretischen und insbesondere methodischen Konsequenzen des aktuellen Aufbrechens kultureller Ordnungen. Ihre Umschau stellt Ansätze zur Diskussion, wie die Kulturforschung auf die weltweite Mobilität reagieren und die neu entstehenden kulturellen Räume verstehbar machen kann. Das Gespräch schließlich, das die beiden Herausgeber dieses Bandes mit Rolf Lindner (Berlin), dem anregenden Grenzgänger zwischen volkskundlicher Kulturwissenschaft, Soziologie und Cultural Studies, führen durften, weist auf einige Defizite der aktuellen Diskussion um die Europäisierung und Ethnologisierung des Faches hin und sucht nach Alternativen. Es kreist, Lindners akademische Biographie reflektierend, um neu zu entdeckende Traditionen, um die ›Lebensnähe‹ der Kulturwissenschaften und liefert neue Argumente für mehr Pluralität – und Kreativität – in der Wissenschaftspraxis.
Zu danken haben die Herausgeber – neben Rolf Lindner für das anregende Gespräch – an erster Stelle den Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft, sich auf dieses nicht immer leichte Experiment einzulassen, Europäische Ethnologie den Leserinnen und Lesern einer historisch-kulturwissenschaftlichen Zeitschrift näher zu bringen und mit ihren Beiträgen sowohl die Konturen des Faches zu zeichnen als auch seine offenen Ränder sichtbar zu lassen. Dann aber gilt der Dank vor allem Reinhard Sieder, auf den die Idee zu diesem Heft zurückgeht und der das Vorhaben bis zum Schluss mit Interesse, Engagement und vor allem großer Geduld begleitet
hat. Der Dank gilt außerdem Alexander Mejstrik für wertvolle redaktionelle Unterstützung, Birgit Hadler für die Transkription des Interviews und John Bendix für die ad hoc-Übersetzung der Abstracts. An anderer Stelle nachzutragen bleibt, was eigentlich mit in der Intention dieses Bandes lag, ein größerer Beitrag der Herausgeber zu den Dispositionen und Perspektiven einer Europäischen Ethnologie in Österreich.
Reinhard Johler (Tübingen)
Bernhard Tschofen (Tübingen)
Ulrich Marzolph
Der Orient in uns. Die Europa-Debatte aus Sicht der
orientalistischen Erzählforschung
Brigitta Schmidt-Lauber
Europäische Ethnologie und Gemütlichkeit. Fragen einer Alltagskulturwissenschaft
Gudrun M. König
Stacheldraht: Die Analyse materieller Kultur und das Prinzip der Dingbedeutsamkeit
Johanna Rolshoven
Europäische Ethnologie. Diagnose und Prognose einer kultur- und sozialwissenschaftlichen Volkskunde
Peter Niedermüller
Das neue Europa: Veränderungen eines kulturellen Konzeptes.
Ethnologische Perspektiven
Peter Payer
Der Klang von Wien. Zur akustischen Neuordnung des öffentlichen Raumes
Silke Göttsch
Europäische Ethnologie/Volkskunde und ihre Quellen. Fachgeschichte und Fragestellungen
Sabine Hess
Transnationalisierung und kulturanthropologische Migrationsforschung
Rolf Lindner/Reinhard Johler/Bernhard Tschofen
Was kann Europäische Ethnologie (nicht)?