Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 10. Jg., Heft 4, 1999

sprache macht geschichte

Vorsatz:
Mein Versuch, feierlich eine Bibliothek zu eröffnen, schlägt fehl, wenn ich sage ”Hiermit eröffne ich diese Bibliothek“, aber der Schlüssel im Schloß steckenbleibt.
(John L. Austin)

Nutzen wir zunächst einmal die Doppeldeutigkeiten der Kleinschreibung in der deutschen Sprache. Die Überschrift dieses Heftes läßt sich als einfacher Satz mit Subjekt, Prädikat und Objekt lesen, aber auch als die Verkettung dreier Substantiva. Beide Versionen dieser Überschrift beziehen sich auf programmatische Überlegungen, die die Organisation dieses Heftes, das auf ein Panel am Österreichischen Zeitgeschichtetag 1999 in Graz zurückgeht, beeinflußten.

”Die Sprache wird zu sehr vernachlässigt.“ Diese hier ein wenig aus ihrem Kontext entfernte lapidare Äußerung findet sich im Materialheft I (Eintrag 175) des Naturwissenschaftlers Georg Christoph Lichtenberg von 1778. Wenigstens solange ist dieses Problem also in den Wissenschaften schon bekannt. Und solange ist es ungelöst oder, und das scheint noch schlimmer zu sein, solange wird es zumindest im ”Alltag“ der Forschung weitgehend ignoriert.

Wenn die Sprache der Geschichtswissenschaften thematisiert wurde, dann gewöhnlich entweder als (bloß) ästhetisches Problem oder als Problem terminologischer Regelungen und Konventionen. Daß Sprache aber auch – viel weitreichender – als Erkenntnisgrundlage, Erkenntnisprinzip und Erkenntnismittel der Geschichte angesehen werden kann und sollte, wurde und wird innerhalb der Geschichtswissenschaften weit weniger akzeptiert. Auch der angebliche ”linguistic turn“ in den Geschichtswissenschaften hat daran vorderhand wenig geändert. Die Sprache der Geschichte blieb ihr blinder Fleck.

Wenigstens aus heuristischen Gründen sollten daher die beiden folgenden Ableitungen als Fragen formuliert werden:
Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Geschichte.
Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner historiographischen Möglichkeiten.

Zu den Eigenarten des Problems ’Sprache‘ gehört aber nicht zuletzt, daß es sich dabei um ein Problem zweiter Ordnung handelt, wie dies von Heinz von Foerster formuliert wurde. Nur mit der Sprache kann die Sprache behandelt werden. ”Alle Welt weiß heutzutage, daß es eine ’Metasprache nicht gibt‘“, meinte Slavoj Žižek vor fast zehn Jahren und kommt damit auf ganz anderen Wegen zur selben Kritik an den Principia Mathematica, denen wir die Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache verdanken. Wird Sprache also thematisiert, wird zugleich das ganze Universum der Sprache eröffnet.

Zwischensatz:
Alles Gesagte wird von einem Beobachter gesagt. (Humberto Maturana)
Alles Gesagte wird zu einem Beobachter gesagt. (Heinz von Foerster)
Die Welt spricht überhaupt nicht. Nur wir sprechen. (Richard Rorty)
Die Umwelt enthält keine Informationen: die Umwelt ist, wie sie ist. (Heinz von
Foerster)
Geschichtsschreibung ist aber Erzählung wie jede andre Erzählung. (Fritz Mauthner)

Mit der Eröffnung des Universums der Sprache wird zugleich ein zunächst keineswegs übersichtliches Universum möglicher Themen, die in diesem Zusammenhang formuliert werden könnten, eröffnet. Bei der Planung des bereits
genannten Panel des Grazer Zeitgeschichtetages – und in der Folge des vorliegenden Heftes – ließ ich mich von den folgenden Maximen leiten:
”sprache macht geschichte“ sollte (noch einmal) klar stellen, daß Geschichtswissenschaft – wie jede Wissenschaft – ein sprachbasiertes Unternehmen war und ist.
”sprache macht geschichte“ sollte in einer selbstthematisierenden Wende unter anderem die Frage nach den mit Geschichtswissenschaft und Historiographie verbundenen Formen stellen.
”sprache macht geschichte“ sollte betonen, daß Sprache zwar unter allen möglichen Aspekten untersucht und diskutiert werden kann, daß es aber im gegebenen Kontext auch sinnvoll erscheint, die Frage nach der Sprache als Frage nach der Macht, die durch sie ausgeübt werden kann, zu stellen.
”sprache macht geschichte“ sollte auch die Frage nach der mit Geschichtswissenschaft und Historiographie verbundenen Macht und deren Verteilung stellen.
”sprache macht geschichte“ sollte die Öffnung der Geschichte sowie der Geschichtsschreibung ins Auge fassen, nicht deren Schließung – ganz im Sinne Richard Rorty’s ”Ironikerin“.

Als die Wiener Schriftstellerin Marlene Streeruwitz gebeten wurde, zu ”sprache macht geschichte“ beizutragen, reagierte sie mit erstaunlicher Milde. Es schien ihr wie selbstverständlich, daß dieser Themenbereich nicht auf Vertreter/innen der Fachhistorie konfiniert werden könne. Ihr Beitrag besteht aus einer Collage eines ihrer Redetexte, nachträglich verfaßter Kommentare
zum Verlauf einer Diskussion über diese Rede sowie aus kleinen Ausschnitten aus der Homepage der NATO. Ihr durchwegs grundsätzlicher Text, der unter dem Eindruck des Kosovo-Krieges geschrieben wurde und einen starken Zusammenhang
zwischen dem Krieg und der Rede über den Krieg herstellt, leitet die Reihe der Artikel dieses Heftes ein.

Auch die Literaturwissenschaftlerin und feministische Philosophin Ursula Kubes-Hofmann bedient sich des Mittels der Montage. Und auch sie nimmt Bezug auf die Kriege auf dem Balkan. Sie beginnt damit, das ”nemo loquitur“ des Odysseus (bzw. des Polyphem) zu einem Niemand lügt! zu reformulieren, und stellt so implizit die Frage nach der ”Wahrheit“ von Sprache oder wenigstens
ihres Wahrheitspotentials in einem speziell gesellschaftlichen Kontext. In einem weiteren Schritt bindet sie die Sprache – aber auch die Geschichte(n) – an das (nicht nur weibliche) Subjekt mit seinen Erfahrungen. Die Kategorie der ”Versehrtheit“ wird dabei zum Angelpunkt erhoben.

Camilla R. Nielsen ruft einen unter Philosoph/inn/en nicht immer geschätzten und unter Historiker/innen kaum bekannten Theoretiker und Praktiker der Sprachkritik in nachhaltige Erinnerung. Fritz Mauthners auf Sprachkritik basierender scharfer Einwand gegen die Geschichtswissenschaft wird in einen breiteren Kontext der Diskussionen über Historismus gestellt. Die Perspektive,
die Nielsen dabei entwickelt, führt durchaus weg vom Mainstream der Debatten seit den 1970er Jahren.

An den Siegener Literaturwissenschaftler Gebhard Rusch werden sich regelmäßige Leser/innen dieser Zeitschrift gewiß erinnern. Auf der Grundlage der konstruktivistischen Debatten speziell des letzten Jahrzehnts entwirft er das Verhältnis von Kognition, Sprache und Geschichte. Ruschs Text empfiehlt sich nicht zuletzt wegen seiner Prägnanz als eine Art Basislektüre zu Problemen
wie Geschichte vs. Gegenwart, Ergeignis, interne Repräsentation, Erinnerung und Versprachlichung von Erlebnissen.

Chris Lorenz Beitrag zu diesem Heft kann als Kontrapunkt zu anderen Beiträgen gelesen werden. Er polemisiert gegen einen seiner Meinung nach unhaltbaren Relativismus in den Geschichtswissenschaften, wie er ihn in manchen Fällen – speziell aus dem englischsprachigen Raum – festzustellen glaubt. Die von ihm angeführten Beispiele, sie sind nicht zuletzt durch eine eher ’schlampige‘ oder verkürzende Rezeption ’postmoderner‘ Theoretiker gekennzeichnet, geben ihm in seinem Urteil zweifellos recht. Lorenz geht aber noch einen Schritt weiter, indem er vermutet, daß die aus Rezeptionsproblemen entstandenen Irrtümer bereits bei den entsprechenden Theoretikern grundgelegt sein könnten.

Auch zwei Beiträge zum Forum liefern weitere Beiträge zum Thema ”sprache macht geschichte“: Hanna Hackers kunstvolle Dankesrede zum Käthe-Leichter-Preis (zu dem die ÖZG herzlich gratuliert) und Markus Kreuzwiesers Überblick zu Thomas Bernhards Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

Bereits auf das kommende Heft der ÖZG, das ”Innovationen“ gewidmet sein wird, verweist der Beitrag von Wolfgang Reiter über das sogenannte Prater-Vivarium. Diese biologische Forschungseinrichtung wurde im Kontext des Wiener jüdischen Groß- und Bildungsbürgertums gegründet und zum Zentrum von Innovationen auf einer Reihe von Wissen(schaft)sgebieten. Das Vivarium wurde im Zuge des ”Anschlusses“ 1938 geschlossen, seine Forscher/innen vertrieben oder in der weiteren Folge ermordet.

Nachsätze:
Die Sprache beginnt für mich aber dort, wo die Kommunikation einen Begriff von Kommunikation entwickelt und reflexiv wird. (Heinz von Foerster) ”Ironikerin“ werde ich eine Person nennen, die (…) radikale und unaufhörliche Zweifel an dem abschließenden Vokabular (hegt), das sie gerade benutzt, weil sie schon durch andere Vokabulare beeindruckt war (…). (Richard Rorty) Sprachanweisungen müßten unleserlich geschrieben sein, um dem Sprecher annähernd den Respekt einzuflößen wie das Rezept dem Patienten.Wenn man nur entnehmen wollte, daß vor dem Sprachgebrauch der Kopf zu schütteln sei. Mit dem Zweifel, der der beste Lehrmeister ist, wäre schon viel gewonnen: manches bliebe ungesprochen. (Karl Kraus)

Albert Müller, Wien
 

Inhalte

Marlene Streeruwitz
Wo über Krieg gesprochen wird, da ist Krieg

Ursula Kubes-Hofmann
Niemand lügt! Anmerkungen zu einer Semiotik der Versehrtheit

Camilla R. Nielsen
Fritz Mauthner und die Kritik am Historismus

Gebhard Rusch
Talking History. Eine Mikro-Zeitgeschichte zum Verhältnis von Kognition, Sprache und Geschichte

Chris Lorenz
‚You got your history, I got mine‘. Some reflections on truth and objectivity in history

Wolfgang L. Reiter
Zerstört und Vergessen: Die biologische Versuchsanstalt und ihre Wissenschaftler/innen

Hanna Hacker
Sieben Mal für Käthe, für Afrika, für mich

Markus Kreuzwieser
Thomas Bernhards literarische Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus

ÖZG-Redaktion
Wer war der Autor

Berthold Unfried
Osterreich/innen in der Sowjetunion

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