Niemand wird leugnen, daß Technik für Menschen, ihre sozialen Beziehungen und die ,natürliche‘ Umwelt enorme Bedeutung hat und daher auch in den Geschichtswissenschaften ein vorrangiges Thema sein müßte. Doch dem ist nicht so. In Deutschland seit den 1960er Jahren einigermaßen etabliert, ist die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Technik in Österreich an keiner Universität verankert. Helmut Lackner und Günther Luxbacher skizzieren in ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Beitrag die versprengten Vorläufer einer Technikgeschichte in Deutschland und Österreich. Den gegenwärtigen Zustand resumierend stellen sie fest, daß die Mehrzahl der Technikhistoriker immer noch von einem reduzierten Verständnis der Technik als "Sachsystem" ausgeht. Die Autoren schlagen dagegen vor, Technik als gesellschaftliches Phänomen zu begreifen, als einen integralen Bestandteil von Kulturen.
Was dies für die wissenschaftstheoretische Ausrichtung einer künftigen Technikgeschichte bedeutet, erörtert Maria Osietzki. Sie bestimmt den Stellenwert von Technik im Kontext der Moderne und mißt ihr epochenprägende Bedeutung zu. Das "technische Projekt der Moderne" habe sich spätestens seit der Industrialisierung tief in den Lebenswelten der Menschen verankert. Allerdings sei Technik als selbstverständlich gewordener Teil der Lebenswelten weithin außer- und unbewußt. Dies sei einer der Gründe, warum Technikgeschichte nicht mehr im Stil der positivistischen Geschichtswissenschaft geschrieben werden könne. Bei der Suche nach philosophischen und methodischen Anregungen in den rezenten Diskursen der Postmoderne stößt sie – was die Einschätzung von Technik betrifft – auf die durchaus klassisch-moderne Dichotomie von Technikskepsis und Technikeuphorie. Anderseits weise die methodische Haltung der Postmoderne den Weg: Technikhistorie habe ihre eigenen Voraussetzungen zu klären und sich selbst als Produkt der technischen Moderne zu begreifen, um sich auf diesem Weg der Dekonstruktion zu einer gesellschaftskritischen Wissenschaft zu verändern.
Gerhard Meißl Iegt eine Fallstudie zur Modernisierung der Wiener Metall- und Maschinenindustrie (1900-1914) vor. Es ist ein Stück Technikgeschichte in wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Erweiterung. Technische Innovation in der Fabrik wird hier nicht mehr "ingenieurwissenschaftlich" betrachtet, sondern im Kontext ihrer Markt- und Kapitalabhängigkeit einerseits und ihrer kompromißhaften Durchsetzung im Feld der sozialen Interessen anderseits. Technik erscheint so als umkämpft und höchst politisch und nicht mehr – wie in der traditionellen Historiographie – als eine Marginalie der Geschichte.
Ernst Haslacher und Michael Ponstingl gehen der kurzen Geschichte der Ergonomie, der technisch-wissenschaftlichen Gestaltung der Mensch-Maschine-Beziehungen, nach. Die moderne Fabrik, das Cockpit im Kampfflugzeug, das Armaturenbrett im Auto und die Vielzahl der mikroelektronisch gesteuerten Haushaltsgeräte sind die Hauptschauplätze der Ergonomie, an denen die ,Maschine‘ dem Menschen angepaßt werden soll und doch immer auch der Mensch sich an die Maschine gewöhnt. Historisch sei dabei eine Steigerung von der motorischen Interaktion zur sensorischen Kommunikation zu verzeichnen. Entwicklung und Anwendung der ergonomisch gestalteten Apparaturen erfolge jeweils zuerst in öffentlichen und halböffentlichen Bereichen des Militärs, der Industriebetriebe usw., ehe sie – als Videorecorder, PC, Stereoanlage usw. – in unser aller Privatsphäre diffundieren: Lebenswelt als Technosphäre.
Technik macht längst auch vor Eingriffen in ihren traditionellen Widerpart, den menschlichen Körper, nicht halt. Bernhard Gill skizziert den aktuellen Stand der biotechnischen und gentechnologischen Eingriffe in die "menschliche Natur" und die ethischen und rechtlichen Diskussionen, die sich daran entzünden. Der Frage der geistes-, sozial- und bio-wissenschaftlichen Konstruktion der Körper in der Moderne ist auch das Gespräch mit Barbara Duden gewidmet. Ausgehend vom Befund der differenten historischen Konstruktion des männlichen und des weiblichen Körpers durch die "Wissenschaften vom Menschen" fragt Duden nach den Wirkungen dieser Konstruktionen auf die "Leibgefühle" von Frauen, etwa bei Schwangerschaften. Der ,wissenschaftliche Beweis‘ einer "weiblichen Sonderanthropologie" habe seit dem 18. Jahrhundert die Beaufsichtigung des Frauenkörpers durch Justiz, Medizin und ,öffentliche Wohlfahrt‘ legitimiert. Barbara Duden sieht sich daher veranlaßt, als Historikerin in die aktuelle politische Debatte um Abtreibung, Gentechnologie etc. einzugreifen.
Reinhard Sieder
Helmut Lackner/ Günther Luxbacher
Technikgeschichte in Deutschland und Österreich
Maria Osietzki
Für eine neue Technikgeschichte
Gerhard Meißl
„Bei aufsteigender Konjunktur werden wir die Scharte auswetzen!“
Ernst Haslacher/ Michael Ponstingl
The Coming of Ergonomics – Intimität der Maschinen
Barbara Duden
Die groben Netze der Historiker
Bernhard Gill
Leibesvisitationen
Dirk Schumann
Wirtschaftsbürgertum in Deutschland