Kultur suchen, wo sie gelebt wird
Als die erste Generation der Annales und einige deutschsprachige ,Kulturhistoriker‘ in den 1920er Jahren das ethnologische Konzept der Mentalität für die Geschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit übernahmen, bedeutete dies das Ende des historistischen Dogmas von der einen Menschheitsgeschichte. Allerdings: Willem Th. M. Frijhoff, Professor für Gesellschaftsgeschichte an der Universität Rotterdam, argumentiert in seinem Beitrag, daß die ,Mentalitätsgeschichte‘ heute wie damals über keinen abgrenzbaren Gegenstand verfüge. Sie sei ein "hybrides Konglomerat", zu dem alles gezählt werde, was mit dem Mentalen korrespondiert: Familie, Sexualität, Prostitution, Tod, Krankheit, Wahnsinn, Magie, Verbrechen, Fest, Ritual e tutti quanti. Eine Folge des wörtlich zu nehmenden Vergangenseins des Mentalen in vergangenen Zeiten. Es ist nur an materiellen Spuren zu re-konstruieren, und oft nicht einmal das.
Frijhoffs Vorwurf an die HistorikerInnen lautet, daß sie, wenn nicht einem manifesten, so doch einem schleichenden Kulturzentrismus unterliegen. Damit ist die Reifikation von Kultur verbunden. Doch Kultur existiert nicht außerhalb ihres Gelebt-werdens. Sie ist kein Zustand, sondern ein Prozeß, in dem Normen und Praktiken unentwegt aufeinander wirken: in dem Individuen und Gruppen handeln und Erfahrungen sammeln, worüber sie sich äußern und so aktiv teilhaben an ihrer Kultur. Das aber heißt: Kultur ist nur analytisch von anderen Aspekten der Praxis (vom Sozialen, Ökonomischen, Politischen usw.) zu unterscheiden. Sie muß gesucht werden, wo sie gelebt wird.
Wie aber steht es dann um den Begriff der Volkskultur? Eine Reifikation zur Potenz? Frijhoff meint, der Begriff sei obsolet. Die Idee einer relativ homogenen Basiskultur scheint ihm überholt. In der Dichotomie von herrschender Kultur und Volkskultur fehlt ihm die Dynamik, denn: "Kultur ist per Definition Zirkulation, Transfer, Veränderung". Wolfgang Kaschuba hingegen sieht gerade im Antipodischen von Volk und Herrschaft einen triftigen Grund, am Bezeichneten festzuhalten, wenn auch ihm die Bezeichnung problematisch erscheint.
Alltag ist nach Mentalität, Kultur und Volk die vierte Kategorie, die wir in diesem Heft zur Diskussion stellen. Alf Lüdtke erläutert im Interview, daß es Alltag als begrenztes und distinktes Feld des Realen nicht gibt. Wohl aber ist die Frage zu stellen, wie Menschen die Verhältnisse, die sie vorfinden, zu ihren eigenen machen – eine Fragestellung, die für Akzeptanz und Anpassung wie für die Veränderung der Verhältnisse gleichermaßen offen ist. Zudem verknüpft sie die Dimension der Erfahrung mit jener der Aktivität. Jan Peters skizziert die Hindernisse, die einer so fragenden Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR in den Weg gelegt worden sind, und konstatiert ein dringendes Nachholbedürfnis an "Alltagshistorisierung", um den Mechanismen der Machterhaltung autoritärer Herrschaft und deren langjähriger Hinnahme durch die Bevölkerung in ihrer alltäglichen Wirkungsweise auf die Spur zu kommen.
In den weiteren Aufsätzen dieses Heftes wird kulturelle, tägliche Praxis und ihr mentaler Aspekt an verschiedenen historischen Gegenständen thematisiert. Sabine Kienitz rekonstruiert die Lebenswelt vagierender Frauen in Württemberg um 1800. Ausführliche Erzählungen vagierender Frauen vor Gericht geben Einblick in eine Lebensweise, die von Strategien der Überlebenssicherung durch Wandern, Betteln und Stehlen, durch Geldverleih und Gelegenheitsarbeit gekennzeichnet gewesen ist. Hier findet die Autorin ein vorindustrielles Rechts- und Unrechtsbewußtsein, das mit der bürgerlichen Rechtsstaatlichkeit in Konflikt geriet. Wolfgang Greif folgt der bürgerlich-adeligen Obrigkeit bei deren entsetztem Blick hinter die Kulissen des Biedermeier. Alkoholkonsum, Glücksspiel und Blauer Montag stehen dabei für die Reste einer ,plebejischen‘ Lebensweise, der die aufgeklärten Herrscher, Unternehmer und schließlich auch die bürgerlichen Funktionäre der Arbeiterbewegung in disziplinierender Absicht entgegentreten. Peter Mänz zeigt an den ersten Kinos in einem Berliner Arbeiterbezirk um 1910, wie dieses neue Medium zu einem Teil des täglichen Lebens geworden ist. Bierkonsum im Kino, der Erklärer als mediendidaktischer Vermittler oder listig-politischer Kommentator, und die Korrespondenz der ersten Filmsujets mit der Lebenswelt der städtischen Arbeiterschaft zeigen, daß dieses neue Medium nicht nur von ,oben‘ oktroyiert, sondern auch von den Bewohnern der Arbeiterquartiere angeeignet worden ist.
Reinhard Sieder
Willem Th. M. Frijhoff
Kultur und Mentalität
Sabine Kienitz
Frauen zwischen Not und Normen
Wolfgang Greif
Wider die gefährlichen Classen
Peter Mänz
Frühes Kino im Arbeiterbezirk
Alf Lüdtke
Alltagsgeschichte. Zur Aneignung der Verhältnisse
Jan Peters
Alltagsgeschichte im Aufbruch?
Wolfgang Kaschuba
Volksgeschichte?
Wolfgang Ernst
Archäologie und Historie
Fritz Keller
Das Ende der Zeitgeschichte?