Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 13. Jg., Heft 2, 2002

Kultur und Geschichte

Kultur und Geschichte

,Kultur‘ ist, nicht zum ersten Mal, in aller Munde. Zwischen den Geschichts- und Sozialwissenschaften, den Philologien und den Kunstwissenschaften bildet sich eine neue Kulturwissenschaft aus. Was sie von historistischer Geschichtswissenschaft, aber auch von der jüngeren historischen Sozialwissenschaft und von einer Soziologie, die Max Weber noch zu den Kulturwissenschaften zählte, oder von den Philologien unterscheidet oder gar trennt, ist unklar und wird jeweils auszuloten sein. Es ist unmöglich, ,Kulturwissenschaft, (im Singular, als inter- und transdisziplinären Ansatz) exakt abzugrenzen. Ihrer Idee und ihrer Praxis nach ist sie hybrid. Das wird ihre eminente Stärke sein, wenn das merging ihrer heterogenen fachwissenschaftlichen Teile zu höherer Stringenz in Begriffen, Modellen und Theorien führt, und ihre Schwäche, wo sie hinter bereits erreichte epistemologische Standards ihrer fachwissenschaftlichen Teile zurückfällt.
Auch in den Geschichtswissenschaften wird seit einiger Zeit von einer kulturwissenschaftlichen Wende gesprochen.(1) Sie besteht, näher besehen, aus mehreren Teilwenden: Zunächst aus der alltagsgeschichtlichen und praxeologischen Wende der 1980er Jahre, als eine erhöhte Aufmerksamkeit für das Handeln der Akteure im sozialen Raum und in ihren alltäglichen Lebens- und Arbeitsprozessen entstand; dann aus der linguistischen Wende der 1990er Jahre, welche die Aufmerksamkeit für die Sprachlichkeit aller Bedeutungskonstruktionen (einschließlich jener der Historiographie) drastisch erhöhte; und zuletzt einer medienwissenschaftlichen Wende, die untersucht, wie allem Handeln und Deuten mediale Bedingungen eingeschrieben sind: Schrift, Bild und Ton, Funk, elektronische Datenübertragung etc. Mit diesen Teilwenden bildete sich auch in den schon seit der Erosion des Primats der Politikgeschichte um 1900 polyparadigmatischen Geschichtswissenschaften ein neues kulturwissenschaftliches Paradigma heraus, das oft “neue Kulturgeschichte” genannt wird. Von älteren Ansätzen unterscheidet es sich vornehmlich in methodologischer Hinsicht, während einige ihrer Fragestellungen und Gegenstände nicht neu sind. Es zerfällt derzeit in zwei antagonistische Richtungen: in jene, die Kultur als Praxis, als soziale und historische Wirklichkeit, rekonstruieren will, und in jene, die Diskurse und andere Artefakte für sich genommen analysiert. Die erste Richtung fasst ,Kultur‘ als ein soziales Zirkulieren der Texte und Bilder und als Kampf um Bedeutungen mit den Mitteln der Narration, der Argumentation, des Designs und der Stilisierung. Kultur als Praxis ist an die affinen Aspekt-Paradigmen des Sozialen, des Politischen, des Religiösen, des Ökonomisch-Technischen usw. anzubinden. Hingegen führt die Konzeption einer historischen Kulturwissenschaft als Diskurs- und Medienwissenschaft einige ihrer Vertreter in eine prononcierte Opposition zur Leitwissenschaft des 20. Jahrhunderts innerhalb der Geschichtswissenschaften – zur Sozialgeschichte – und in eine Art Kulturimmanenz. Welche Richtung die >besseren< Ergebnisse hervorbringen wird, ist noch nicht abzusehen. In diesem Band publizieren wir vier Aufsätze und zwei Review-Essays, die dem Teilparadigma “Kultur als Praxis” zuzurechnen sind. Weitere Bände, unter anderem zur Kulturgeschichte der Musik, zur Diskursgeschichte der Psychoanalyse und zur neuen historischen Medienwissenschaft, bereiten wir vor.

Die neue Kulturwissenschaft muss ihr Verhältnis zu den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachwissenschaften klären. Dazu wird sie auch ältere Begriffe und Konzepte von >Kultur< prüfen müssen, die recht unterschiedlich, aber keineswegs samt und sonders uninteressant sind. Georg Bollenbeck hat die Genese von >Bildung und Kultur< als »deutschem Deutungsmuster« nachgezeichnet.(2) Von Österreich aus gesehen scheint sein Bild revisionsbedürftig, wie Florian Oberhuber im ersten Beitrag argumentiert. Jene an die Aufklärung anschließende ältere Kulturgeschichtsschreibung, die von Bollenbeck im Souterrain der Öffentlichkeit verortet wird, sei in Österreich länger lebendig und populär geblieben. Wir fügen hinzu: Ähnlich wie die Geschichtsforschung der Annales-Schule war auch die Wiener Wirtschafts- und Sozialgeschichte seit ihren Anfängen immer auch mit >Kultur< befasst. Ganz im Sinn der Aufklärung meinte sie damit das Insgesamt menschlicher Lebenstätigkeiten in Ökonomie und Technik, Wissenschaft und Kunst, Sitte, Brauch und Gewohnheit, Alltagskultur u. a. Die erste selbständige Einrichtung für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien ab 1922 hieß nicht zufällig »Seminar für Wirrschafts- und Kulturgeschichte«.(3) Wie Oberhuber in Absetzung von Bollenbeck konstatiert, fügte sich Kultur in diesem weiten Verständnis offenbar besser dem Positivismus und der Praxisnähe >österreichischen< Denkens als jener vergeistigte, idealistische Kulturbegriff, wie er in Deutschland unter pietistischen und neuhumanistischen Einflüssen entstanden war. Zur Erprobung dieser These stellt Florian Oberhuber einen Autor österreichischer Herkunft vor. Gustav Ratzenhofer (1842-1904), der später in den USA zu den Klassikern der Soziologie gerechnet wurde, verfasste ein heute vergessenes Frühwerk: Im Donaureich. Darin schlug er ein umfassendes »Wohlfahrtsprogramm« vor, das als Ausdruck des »reinen Kulturbetriebs« die politischen Nationalitäten in der Monarchie integrieren sollte. Kultur – schon im Zeichen des Bürgerlichen – sollte die Einheit stiftende Funktion der Krone übernehmen: über den sich differenzierenden Nationalitäten die universale, höhere Kultur des Reiches. Dieser neo-josephinische Kulturbegriff war nun allerdings gegen den neuen Nationalismus, somit aber auch gegen den romantischen Kulturbegriff Herders und den historistischen Kulturbegriff des 19. Jahrhunderts gerichtet. Er wurde von Ratzenhofer >technisch<, a-national und a-historisch gefasst.

Da im permanenten Prozess der Kulturproduktion Medien eine maßgebliche Rolle spielen, werden seit einiger Zeit Anstrengungen unternommen, eine historische Medienwissenschaft zu entwerfen, welche die Durchdringung aller Kultur durch technische Medien und Kommunikations-Medien theoretisch denken und empirisch erforschen kann.(4) An einem Kriminalfall, der bis heute eine Anekdote deutscher Geschichte geblieben ist, stellt Philipp Müller die Frage nach der Funktion von Tageszeitungen um 1900. Die Berliner Presse, so sein Befund, hatte entscheidenden Anteil daran, den Verbrecher Wilhelm Voigt zu einer öffentlichen Figur, zum Hauptmann von Köpenick, aufzubauen und seine Tat tragikomisch auszugestalten. Die Wirkungsmacht der Presse sei allerdings eine diskursive und weniger eine personale Verfügungsmacht des Verlegers; doch auch den Diskursen komme keine absolute Macht zu. Die Kompetenz der Tageszeitungen bestehe in der gestaltenden Vermittlung von Informationen, deren Aneignung aber sei abhängig von der Position und Praxis der Rezipienten im sozialen Raum. – Mediengeschichte bleibt in diesem Fall eng in Sozialgeschichte verstrickt.

Eine Studie, die schriftlich eingereichte Gnadengesuche von politischen Gefangenen des Nazi-Regimes untersucht, stößt zwangsläufig auf den Konstruktionscharakter autobiographischer Texte. Isabel Richter untersucht Gnadengesuche auf ihre strategischen, fiktiven und rhetorischen Anteile. 60 Gnadengesuche von Gefangenen, die der Volksgerichtshof als Mitglieder des linken Widerstands in Hochverratsprozessen verurteilt hatte. Sie formulierten ihre Gnadengesuche meistens nach langen Haftzeiten in Zuchthäusern, vor ihrer Entlassung aus der justiziellen Haft und einer drohenden Einweisung in ein Konzentrationslager, vor der Vollstreckung eines Todesurteils oder auch nach Ablauf ihrer Haftzeit, um die »Wehrwürdigkeit« wiederzuerlangen und als Soldaten am Krieg teilnehmen zu können. Diese Texte zerstören die fromme Illusion, dass Entwürfe des eigenen Lebens immer der Selbstvergewisserung und der Selbstbestimmung dienen würden. An existenziellen Grenzsituationen führen sie uns vor Augen, dass alles Reden über das Selbst – auch in weniger terroristischen Zeiten – gesellschaftlichen Skripts folgt und nicht in der freien Verfügbarkeit des Individuums liegt.

Anfang der 1990er Jahre formulierte Stuart Hall,(5) einer der Gründerväter der britischen Cultural Studies, einen cultural circuit; Ernst Langthaler dynamisiert ihn zur Spirale kultureller Praxis: Sie entstehe aus der Abfolge von Entäußerung (encoding), materieller Repräsentation in der Außenwelt (text), Verinnerlichung (decoding) und mentaler Repräsentation in der Innenwelt (lived culture), die wieder Entäußerungen nach sich ziehe und so fort. Dieses Modell wird nun in der hier von Langthaler gemeinsam mit Bernhard Ecker und Martin Neubauer vorgelegten Studie auf das Memorial einer Dorfgesellschaft angewandt und zu einem circuit of memory abgewandelt. Wie konstruiert das Dorf seine Geschichte, besonders die tragischen Episoden des 20. Jahrhunderts, in denen sich auch der entlegene Ort im Gebirge – entgegen dem Mythos von seiner politischen Unschuld – als ein Ort des politischen Mordes, der Intrige und der Vertreibung entpuppt? Die Autoren haben dazu einen Diskussionsprozess mit den Dorfbewohnern initiiert und moderiert, dessen akribische Analyse sie uns hier vorlegen. Geschichte als Kommunikationsprozess, über den sich mentale und materielle Repräsentationen zu kulturellen Repräsentationen verdichten: Geschichts-Kultur als prozedierendes Resultat strukturierter und strukturierender Praxis.

Clemens Zimmermann verfasste einen Essay über eine jüngst erschienene Studie des Kulturwissenschaftlers Wolfram Aichinger.(6) Auch hier wird eine Kernfrage aller Kulturwissenschaft diskutiert: der Übergang zu den Druckmedien und das Verhältnis von Oralität und Skripturalität. Den Geschichten von »Elenden Frauen«, »Armen« und »Obdachlosen« in recht disparaten Büchern der letzten Zeit widmet Philipp Müller einen vergleichenden Review-Essay. Seine Lektüre erweist, dass die kulturwissenschaftlich orientierten Arbeiten positivistischer Sozialgeschichtsschreibung zumindest in einem Punkt überlegen sind: Sie wissen um die Konstruiertheit der sozialen Tatsache (Durkheim) durch die herrschende Rede und entgehen der Gefahr aller Sozialgeschichtsschreibung, soziale Konstruktionen zu ontologisieren.

Reinhard Sieder / Wien

Anmerkungen
(1)    Reinhard Sieder, Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer Historischen Kulturwissenschaft?  in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), H. 3, 445-468.
(2)    Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, 2. Auflage, Frankfurt am Main u. Leipzig 1994.
(3)     Peter Schöttler, Hg., Lucie Varga. Zeitenwende. Mentalitätshisrorische Studien 1936-1939, Frankfurt am Main 1990; Reinhard Sieder, Was heißt Sozialgeschichte? Brüche und Kontinuitäten in der Aneignung des >Sozialen<, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften I (1990) H. 1, 25-48.
(4)    Claus Pias, Joseph Vogl, Lorenz Engell, Oliver Fahle, Britta Neitzel, Hg., Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999,3. Auflage 2000.
(5)    Stuart Hall, Encoding, Decoding, in: Simon During, Hg., The Cultural Studies Reader, London u. New York 1993,90-103.
(6)    Wolfram Aichinger, Almendral. Zur popularen Kultur eines kastilischen Gebirgsdorfes, Wien 2001.
 

Inhalte

Florian Oberhuber
Reich und Kultur. Zum neu-josephinischen Kulturbegriff 1848-1918

Philipp Müller
Journalistische Vermittlung und ihre Aneignung. Die öffentlichen Verhandlungen über Wilhelm Voigt alias Hauptmann von Köpenick in Berlin 1906/08

Isabel Richter
Das Abseits als unsicherer Ort. Gnadengesuche politischer Gefangener im Nationalsozialismus als autobiographische Texte

Bernhard Ecker/Ernst Langthaler /Martin Neubauer
Denk-Orte: ein Dorf reflektiert sein Gedächtnis

Philipp Müller
Elende Mütter und Obdachlose. Review-Essay

Clemens Zimmermann
Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Dorf. Zu Wolfram Aichingers Konzept medialer Verräumlichung am Fall des kastilischen Dorfes Almendral

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