Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 4. Jg., Heft 1, 1993
Revisionen
Revisionen
Sind wir Revisionisten? – Manche modische Formel mag dies nahelegen. Und gewiß zwingen politische und gesellschaftliche Kontinuitätsbrüche auch die Historiker zu einem Überdenken der eingeschliffenen Perspektiven und Praktiken. Revisionen wären dann zu verstehen als Reaktionen auf und als Kompensation für Enttäuschung und Verlust alter Gewißheiten. Sie korrespondieren also mit einem Erfahrungswandel, den das Ende der ,großen Ideologien‘ und der ,Erzgewißheiten‘ in Europa gebracht hat. Doch können wir es nicht mehr so umstandslos halten wie Brecht, der seinem Freund Walter Benjamin geraten hat, "nicht an das gute Alte, sondern an das schlechte Neue" anknüpfen. Es ist die Entdeckung des konstruktivistischen Charakters der Historie, die zu Re-Visionen, zum ,Noch-einmal-hinsehen‘, zur kritischen Besichtigung scheinbar abgesteckten Terrains, im Falle von Texten: zum ,Neu-Lesen‘, zur ,Re-Interpretation‘ und zum ,Umschreiben‘ zwingt, und damit zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den Konstitutionsbedingungen von Geschichtswissenschaft(en).
Eröffnet wird das vorliegende Heft mit Reflexionen zu Jenö Szücs‘ Essay über die "drei historischen Regionen Europas" . Szücs ging es in seiner "Skizze" – aktuelle politische Bedürfnisse ebenso aufnehmend wie kritisch hinterfragend – um nicht weniger als die historischen Voraussetzungen für die Entstehung demokratischer Herrschaftsformen und einer ,bürgerlichen Gesellschaft‘ in Europa. Während im ,Westen‘ der okzidentale Feudalismus einer kapitalistischen Transformation und der Herausbildung einer vom Staat unabhängigen ,zivilen Gesellschaft‘ den Weg bereitet habe, fehlten diese Strukturmerkmale im ,Osten‘. ,Ostmitteleuropa‘ wird von Szücs als eigenständige europäische Region mit spezifischen Strukturmerkmalen zwischen westlichem und östlichem Entwicklungsmodell situiert, gekennzeichnet durch strukturelle "Zwiespältigkeit" und durch Brüche in der sozio-ökonomischen. Entwicklung, deren gemeinsamer Nenner die "zweite Leibeigenschaft" gewesen sei. Szücs‘ Thesen werden in Erich Landsteiners Eröffnungsbeitrag im Licht der einschlägigen neueren Forschung diskutiert.
Hermann Rebel geht es in seinem Beitrag Österreich und die Entwicklung der Weltwirtschaft um die Kritik eines wirtschaftshistorischen Ansatzes, der selbst mit dem Gestus der ,Neuinterpretation‘ auftritt. In Auseinandersetzung mit John Komios‘ jüngstem Buch zur ökonomischen Entwicklung der Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert weist Rebel in detaillierter Kritik nicht nur die höchst problematische Quellenbasis (die Körpergröße von Armee-Rekruten als Indikator für den "Ernährungszustand"), ihre Auswertung und Darstellung zurück, sondern verwirft auch die Gesamtanlage der Studie als platte Umkehrung der herkömmlichen Sonderwegs- und Rückständigkeitskonzeptionen. Neomalthusianische und neo-klassische Ansätze mit ihrer immanenten Tendenz zur ,Naturalisierung‘ und De-Historisierung bieten, so Rebel, keine brauchbaren Erklärungsmodelle für die Industrialisierung und ihre ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen und Folgen.
Peter Schöttlers auf Recherchen in den Nachlässen von Lucien Febvre und Marc Bloch basierender Artikel macht auf die weithin vergessenen intellektuellen und persönlichen Beziehungen zwischen den ,Annales‘-Gründern und Vertretern der österreichischen Geschichtswissenschaft in den 1930er Jahren aufmerksam, vor allem zu Alphons Dopsch und zu dessen Schülerin Lucie Varga. Die Mitarbeit der österreichischen Historikerin an der französischen Zeitschrift bedeutete nicht nur einen ,Brückenschlag‘ zwischen zwei Wissenschaftskulturen, sie hat auch die inhaltliche Linie der ,Annales‘ beeinflußt. Lucie Varga veröffentlichte in den ,Annales‘ mehrere sozial- und mentalitätsgeschichtliche Arbeiten zum Wandel alpiner Dorfstrukturen, zur Genese des Nationalsozialismus und zum Modernisierungspotential des italienischen Faschismus. – Die Beendigung ihrer Tätigkeit für die Zeitschrift nach dem erzwungenen Abbruch ihrer Beziehung zu Lucien Febvre macht aber auch die destruktiven Zwänge bürgerlicher Konventionen im Feld ,männlicher Wissenschaft‘ deutlich.
Die selbstreflexive Wendung der (Sozial-)Gechichte, wie sie Günther Landsteiner und Wolfgang Neurath postulieren, ist geleitet von einer absichtsvollen Betonung von discontinuité und décentrement, das heißt durch einen Bruch mit einem ganzen Ensemble von Denkgewohnheiten, die in die Geschichte eingeschrieben worden sind. Erst eine auf sich selbst angewandte Sozialgeschichte, die ihre wissenschaftlichen Aussagen auf die Diskursräume bezieht, in denen sie entstanden sind, und auf die ,sozialen Felder‘, die diesen Diskursen Raum gegeben haben, werde, so die Autoren, die erkannten sozialen Bedingungen und Grenzen wissenschaftlicher Arbeit produktiv einsetzen können.
Albert Müller analysiert unter dem von Pierre Nora geprägten Begriff der "Ego-Histoire" autobiographische Texte österreichischer Historiker seit den fünfziger Jahren. Deutlich werden nicht nur die Matrix der Referenzen und Bezugnahmen, die das soziale Feld ,Geschichtswissenschaft‘ konstituieren und begrenzen, sondern auch die Veränderungen der "disziplinären Ordnung" innerhalb der akademischen Territorien.
Ernest Gellner im Interview über kulturellen Nationalismus in einem "Europa der Regionen" sowie Wolfgang Bialas und Berthold Unfried in ihren Beiträgen im
Forum beschäftigen sich in unterschiedlicher Weise mit ,Identitätsbildung‘ und ,Identitätskrisen‘ in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen (Sub-) Systemen. Wolfgang Ernst berichtet unter dem Titel "Der Weltkrieg als ,Historial‘ " über die internationale Tagung
La guerre et la memoire de la guerre in Péronne. Re-Vision, im Sinne einer Interessensverlagerung auf das Feld der historischen Repräsentation, ist dann auch die gemeinsame Klammer für den Rezensionsteil dieses Heftes.
Gerald Sprengnagel, Salzburg
Inhalte
Erich Landsteiner
Europas innere Grenzen
Hermann Rebel
Österreich und die Entwicklung der Weltwirtschaft
Peter Schöttler
Die Annales und Österreich
Günther Landsteiner/ Wolfgang Neurath
Bemerkungen zu einer Sozialgeschichte der Sozialgeschichte
Albert Müller
Alte Herren/Alte Meister
Ernest Gellner
Kultureller Nationalismus in einem Europa der Regionen
Wolfgang Bialas
Authentizität im Zusammenbruch
Berthold Unfried
,Weiße Flecken‘ in der Geschichte des Weltkommunismus
Wolfgang Ernst
Der Weltkrieg als ,Historial‘
Franz X. Eder
Zur szientistischen Konstruktion der Geschlechterdifferenz im 19. Jahrhundert