Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 2. Jg., Heft 1, 1991

Wende welcher Geschichte?
Wende welcher Geschichte?
 
Die Beiträge zu diesem Heft befassen sich großteils mit der Geschichte, dem gegenwärtigen Zustand und den Zukunftsperspektiven der Geschichtsforschung in mehreren Ländern und Regionen des ehemaligen "Ostblocks".
Georg G. Iggers, sensibler Chronist und scharfsinniger Analytiker historiographischer Trendwenden, unternimmt einen Vergleich mit zweifacher Perspektive, indem er einerseits jenseits der platten Totalitarismus-These, für die immer schon alles eins war, die Geschichtswissenschaft der DDR nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes der deutschen Historiographie nach 1945 gegenüberstellt, andererseits die Entwicklung der Disziplin in beiden deutschen Staaten zwischen 1945 und 1989 vergleicht. Er diskutiert die sich immer nach dem Untergang eines diktatorischen Regimes stellende Frage, ob die Historiker/innen im Rahmen des jeweils Möglichen ihre wissenschaftliche Integrität zu wahren vermochten oder zu Apologeten des Systems geworden sind.
 
Helga Schultz, Mitglied des Instituts für deutsche Geschichte der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR, sieht nach der politischen Wende in ihrem Land die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels. Nachdem sowohl die Apologetik (post-)stalinistischer Machtstrukturen als auch die orthodoxe Teleologie der marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie auf dem historiographischen Misthaufen gelandet sind, stellt sich die Frage, wie sehr diese Verkümmerungen aus der historisch-materialistischen Methode selbst, oder vielmehr aus deren Indienstnahme zur Legitimierung des Regimes entstanden sind. Helga Schultz gibt einen Überblick über die sozialhistorische Forschung, die sich in den Nischen des Systems von ideologischer Bevormundung weitgehend freihalten konnte und teilweise den Anschluß an die internationale Forschung fand.
 
Nikolaj E. Koposov, Professor an der pädagogischen Hochschule Leningrad und derzeit in Paris, betritt in seinem Beitrag zu den mentalen Grundlagen der marxistischen Geschichtsphilosophie sowjetischer Prägung epistemologisches Terrain. Ausgehend von der These, daß jedes "historiosophische System" auf einem bestimmten Set mentaler Grundeinstellungen im Sinne eines Ensembles vorbewußter kollektiver Vorstellungen von Geschichte und Gesellschaft beruht, sieht der Autor in der Geschichtsphilosophie von Marx und Engels ein spezifisches Amalgam aus dem von der europäischen Aufklärung ererbten "traditionellen Humanismus" und dem aus der Zuspitzung der sozioökonomischen Widersprüche im europäischen 19. Jahrhundert geborenen "revolutionären Komplex". Dadurch wurde der Klassenkampf zum zentralen Konzept des historiosophischen Systems marxistischer Prägung. Während in Westeuropa vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des 20. Jahrhunderts der durch den Glauben an die Vernunft, den Fortschritt und die Realisierbarkeit einer idealen Gesellschaftsordnung gekennzeichnete "traditionelle Humanismus" durch einen "Humanismus modernen Typs" mit einer
individualistischeren, aber auch pessimistischeren Sichtweise von Individuum und Gesellschaft abgelöst worden sei, habe man die mentalen Grundeinsteilungen des Marxismus in der UdSSR konservieren und zur Legitimation des Systems instrumentalisieren können.
 
Die erkenntnistheoretischen Prämissen und die Charakterisierung der methodischen und thematischen Entwicklung der Sowjetischen Historiographie in Koposovs Beitrag fordern Widerspruch heraus. Adel‘ L. Jastrebickaja vom Institut für wissenschaftliche Information in den Gesellschaftswissenschaften der Sowjetischen Akademie der Wissenscilaften, mit der wir auch ein Gespräch über Perestrojka und sowjetische Mediävistik geführt haben, liefert einen kritischen Kommentar.
 

Der Wiener Philosoph Konrad P. Liessmann eröffnet das Forum dieses Heftes mit einem Essay über den kürzlich verstorbenen marxistischen Geschichtsphilosophen Louis Althusser. Berthold Unfried und Zdenék Kárník berichten über die personelle und institutionelle Reorganisation der tschechischen Historiographie nach der Revolution von 1989. Neven Budak skizziert den Entwicklungsstand der Geschichtsschreibung in Kroatien und äußert Besorgnis über die gegenwärtig stattfindende Indienstnahme der Geschichte zu nationalistischen Zwecken. Während Csaba Sasfi die gesellschaftliche Stellung und die Zukunftsaussichten der Historiker/innen vor und nach der politischen Wende in Ungarn analysiert, skizzieren fünf österreichische Historiker/innen ihre Thesen zum Charakter der gesellschaftspolitischen Reform in Ungarn. Mit der Vorstellung eines Forschungsprojektes zur Sozialgeschichte der österreichischen Unternehmer beginnen wir eine kontinuierliche Information über laufende Forschungsprojekte.

Inhalte

Georg G. Iggers
Geschichtswissenschaft und autoritärer Staat

Helga Schultz
Was bleibt von der Geschichtswissenschaft der DDR?

Nikolaj E. Koposov
Sowjetische Historiographie, Marxismus und Totalitarismus

Adel‘ L. Jastrebickaja
Bemerkungen zu Koposov

Adel‘ L. Jastrebickaja
Die Sprache des Äsop

Konrad Paul Liessmann
Pour Althusser

Berthold Unfried/Zdenék Kárník
Tschechische Historiographie

Neven Budak
Der Schatten des Banus

Csaba Sasfi
Geschichtswissenschaft in Ungarn

Franz Delapina u.a.
Die Reform frißt ihre Kinder

Bettina Kessler u.a.
Österreichische Unternehmer

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