Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1. Jg., Heft 1, 1990
Geschichte neu schreiben
Geschichte neu schreiben
Zur Gründung der ÖZG
Als Lucien Febvre und Marc Bloch 1929 die Zeitschrift ,Annales d’histoire economique et sociale‘ ins Leben riefen, wollten sie einer Geschichtswissenschaft zum Durchbruch verhelfen, "die als ganze Sozialgeschichte ist". Der englische Historiker Gareth Stedman Jones meinte Ende 1967 in der ,New Left Review‘, der wohl wichtigsten marxistischen Zeitschrift der englischsprachigen Welt, eine "neue Geschichtsschreibung" könne nur durchgesetzt werden, wenn sie sich "ihre eigenen Institutionen" schafft, ihre "eigenen Zeitschriften" betreibt und "ihre eigenen Debatten" führt. – Im Unterschied zu den Gründern der ,Annales‘ in Frankreich, den linken Historikern Englands um die Zeitschrift ,New Left Review‘, oder auch zu den Gründern der deutschen Zeitschrift ,Geschichte und Gesellschaft‘ betreiben wir mit der Gründung der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) nicht die Durchsetzung einer bestimmten Richtung innerhalb der Geschichtswissenschaften. Vielmehr sind wir der Auffassung, daß dem mainstream der deutschsprachigen Historiographie ein nur schwer zu definierendes, doch eben deshalb umso wirkungsmächtigeres humanistisch-staatskonsensuales Geschichtsbild implizit ist, das die geistige Arbeit zunehmend hemmt. Es kann nur durch die Mobilisierung seiner eigenen Elemente von innen erodiert und in Bewegung gebracht werden, denn die Innovationspotentiale der Geschichtswissenschaften liegen heute nicht in einer ihrer Disziplinen oder in einer bestimmten Methode, sondern in deren wechselseitiger Anregung und Kritik.
Die Zusammensetzung des Herausgebergremiums trägt dieser Tatsache Rechnung: Vertreten sind die Zeitgeschichte, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die Geistesgeschichte, die vergleichende Landesgeschichte, die Geschichte der Frühneuzeit, die Österreichische Geschichte, die Mediävistik und die Geschichtsphilosophie. Die Hefte der ÖZG, die vierteljährlich erscheinen sollen, werden in der Regel Beiträge aus diesen Disziplinen bringen. Die interdisziplinäre Konfrontation und die theoretische Debatte sollen dadurch angeregt werden.
Wir gründen diese Zeitschrift in einer Zeit, in der sich Europa am Ende einer Epoche und am Beginn einer neuen befindet. Was jahrzehntelang unverrückbar erschien, ist in Bewegung gekommen. Der politische, kulturelle, ökonomische und strategische Umbruch und das realpolitische Ende einer Großideologie gehen mit Verunsicherung in den Humanwissenschaften einher. Nicht nur die alten ,Gewißheiten‘ einer marxistischen Geschichtswissenschaft sind dahin. Auch die Überzeugung, daß die Sozialwissenschaften der Historie den Weg weisen würden, ja selbst die Annahme, daß "die Geschichte" von Menschen nach gesellschaftspolitischen Vorstellungen gemacht wird, bleiben nicht unwidersprochen. Und schließlich: Befinden wir uns, wie manche Philosophen behaupten, nicht schon im utopielosen ,Posthistoire‘? – Die alten Gewißheiten werden nicht durch neue ersetzt werden können, vielmehr gilt es, auch noch die letzten scheinbaren Evidenzen der Gegenwart in Zweifel zu ziehen. Die Geschichtswissenschaften verfügen über einen"weiteren Blick", der den Parolen des Tages die historische Elle anlegt. In diesem Sinn verstehen wir die Geschichtswissenschaften als Kritik jedes bloß ,gegenwärtigen‘ Denkens und unsere Arbeit als eine spezifische Form der Einmischung in das historische Geschehen.
Die ÖZG ist nicht an ein bestimmtes Institut oder an eine wissenschaftliche oder politische Organisation gebunden. Sie wurde von Wissenschaftern und Wissenschafterinnen gegründet, die verschiedenen Universitätsinstituten, der Akademie der Wissenschaften und dem Institut für österreichische Geschichtsforschung angehören – oder derzeit ohne Anstellung sind. Wir sehen darin den politischen Ausdruck von Selbstorganisation und Eigeninitiative über die Grenzen der oft trägen Institutionen hinweg. Die ,Verlagslandschaft‘ in Österreich ist für ein solches Projekt keineswegs günstig. Es lag nahe, unser Vorhaben bei jenem Verlag zu realisieren, der selbst aus der Initiative von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern entstanden ist und heuer sein 10-jähriges Bestehen feiert: beim Verlag für Gesellschaftskritik.
Wer kennt nicht die Beschwörungen der Mittlerrolle Österreichs zwischen "Ost" und "West". Die alten und die neuen Brücken-Metaphern dienten und dienen jedoch der Verschleierung politischer Herrschaft und materieller Interessen. Dem haben die Geschichtswissenschaften, wie wir sie verstehen, mit kritischen Fragen entgegenzutreten: Zum Beispiel mit der Frage nach der Unterdrückung von nationaler Selbstbestimmung und von Menschenrechten in jener Donaumonarchie, die heute im Zusammenhang mit dem imaginierten neuen "Mitteleuropa" gerne verklärt wird; mit der Frage nach dem Diktat des stalinistischen Internationalismus über die Ethnien und Nationen Ostmitteleuropas; mit der Frage nach der politischen, ökonomischen und kulturellen Herrschaft über unterlegene soziale Klassen, nach den alltäglichen Arbeits-und Lebensbedingungen und, nicht zuletzt, nach den Formen der Herrschaft von Männern über Frauen in der Öffentlichkeit und in den Bereichen des sogenannten ,Privaten‘ .
Die Rubriken der ÖZG sind so eingerichtet, daß sie solche und ähnliche Problemstellungen aufnehmen können. Jedes Heft hat einen thematischen Schwerpunkt mit vier oder fünf wissenschaftlichen Aufsätzen. Hier werden Forschungsergebnisse referiert, hier wird über Aufgaben der Geschichtswissenschaften und ihre theoretischen und methodischen Probleme reflektiert, hier werden Überblicke über große Themen geliefert. Den zweiten Teil der ÖZG nennen wir Forum. Es ist der Ort für Essays, die aktuelle Ereignisse in ihren historischen Zusammenhängen kommentieren, für Berichte von Tagungen, für die Kritik von historischen Ausstellungen u.a. In den regelmäßig erscheinenden Interviews, sollen Forscherinnen und Forscher, die für die Entwicklung der Geschichtswissenschaften Bedeutung haben, zu Wort kommen: spontan und assoziativ sollen sie hier im Gespräch mit Herausgeber/innen und Redakteur/innen ihre wissenschaftlichen und biographischen Erfahrungen ausdrücken können, die beim Schreiben wissenschaftlicher Texte allzu leicht der Selbstzensur unterliegen. Rezensionen wichtiger Neuerscheinungen sollen einerseits die innovativen Leistungen hervorheben, anderseits aber auch konzeptive, theoretische oder methodische Mängel erkennbar machen.
In diesem ersten Heft beschäftigen wir uns in den wissenschaftlichen Aufsätzen vor allem mit der Frage, ob und wie Geschichte neu geschrieben werden soll. Ähnlich wie das politische Denken im allgemeinen aus dem historischen Wissen Orientierung bezieht, gründet sich das innovative wissenschaftliche Denken auf dem Wissen um die Geschichte der Wissenschaften. Wissenschaftsgeschichte treiben heißt, das ,Unbewußte‘ in der Praxis der Geschichtswissenschaften, die Genese der Problemstellungen, Denkkategorien und Analyseinstrumente zu erforschen, die die Historiker/innen jeweils von ihren Vorgängern ,erben‘ und verwenden, als wären sie ,selbstverständlich‘ . Wissenschaftsgeschichte ist deshalb, um mit Pierre Bourdieu zu sprechen, "eine notwendige Voraussetzung der wissenschaftlichen Praxis". In diesem Sinn untersucht der englische Historiker Peter Burke die Bemühungen der französischen Historikergruppe um die ,Annales‘ ,eine "Neue Geschichtswissenschaft" zu begründen und weist nach, daß die zentralen Postulate dieser Gruppe auf ältere Traditionen zurückgehen und zeitgleiche Parallelen in anderen europäischen Ländern und in den USA haben. Der Wiener Sozialhistoriker Reinhard Sieder rekonstruiert, wie ,das Soziale‘ seit den Anfängen der Sozialgeschichte um die Jahrhundertwende gedacht worden ist und worum es im gegenwärtigen Streit zwischen Vertretern der "historischen Sozialwissenschaft" und der sogenannten "Alltagsgeschichte" eigentlich geht. Der Salzburger Zeithistoriker Gerhard Botz stellt die Frage "Eine neue Gesellschaft, warum nicht eine neue Geschichte?"; er setzt sich mit der Institutionalisierung der Zeitgeschichte in Österreich und mit der fragwürdigen Abgrenzung dieser historischen Disziplin innerhalb der Geschichtswissenschaften"am Ende ihres Jahrhunderts" auseinander. Gerhard Jaritz vom Institut für mittelalterliche Realienkunde der Akademie der Wissenschaften plädiert "Für eine neue Unzufriedenheit" in der Mediävistik. Im Forum eröffnen Andras B. Hegedüs und György Dalos mit ihren Essays über die aktuelle Situation in Ungarn die Diskussion um den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Aufbruch in "Ostmitteleuropa". Der Südtiroler Historiker Hans Heiss berichtet über die Ausstellung "Option – Heimat – Opzioni" in Bozen. Franz X. Eder führte mit dem US-amerikanischen Historiker Peter Gay ein Gespräch über Möglichkeiten und Grenzen der "Psychogeschichte".
Die Herausgeber/innen
Inhalte
Peter Burke
Die „Annales“ im globalen Kontext
Reinhard Sieder
Was heißt Sozialgeschichte?
Gerhard Botz
„Eine neue Welt, warum nicht eine neue Geschichte?“
Gerhard Jaritz
Für eine ,neue‘ Unzufriedenheit
Peter Gay / Franz X. Eder
Freud für die Historie
György Dalos
Ungarns Weg nach Europa
András B. Hegedüs
Frühlingsmorgen auf Parzelle
Hans Heiss
Option – Heimat – Opzioni