Gedächtnis / Erinnerung / Identitäten
Pierre Noras imponierendes siebenbändiges Werk Les lieux de mémoire (19841992) trug wesentlich dazu bei, dass Gedächtnis, Erinnerung und Identitäten nicht nur zu Paradigmen in der Historiografie, sondern auch in anderen kulturwissenschaftlich orientierten Disziplinen geworden sind. Dies gilt auch für Österreich, wo an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ein groß angelegtes transdisziplinäres Forschungsprogramm entwickelt wurde, das sich über mehrere Themenbereiche erstreckt. Im Mittelpunkt der Untersuchungen steht die Konstruktion von Identitäten in ethnisch-kulturell heterogenen Regionen Zentraleuropas, die vielschichtige Textualität von Kultur in diesem Raum, die »Speicher des Gedächtnisses« (wie Archive, Bibliotheken und Museen), deren Inhalte der Erinnerung als Stütze dienen, und schließlich die Verankerung des individuellen und kollektiven Gedächtnisses im Raum.
Andere Schwerpunkte entstanden am
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Das ministerielle Forschungsprogramm »Grenzenloses Österreich«, das anlässlich der Gedenkjahre 1995/1996 – »Zweite Republik« und »Millennium« – gestartet wurde, beschäftigte sich unter anderem mit dem Bedeutungswandel von Identität und Nation sowie mit dem Umgang mit »Anderem« und »Fremdem«. Die Ergebnisse von Forschungen zur Geschichte öffentlicher Gedenktage in den Ländern der ehemaligen Habsburgermonarchie sowie die Beteiligung an der Ausstellung »Mythen der Nationen« am
Deutschen Historischen Museum (1998) legten es nahe, auf der Grundlage eingehender Studien über Nationsbildung und Nationalbewusstsein in Österreich die Möglichkeiten und Grenzen einer Adaption des Noraschen Konzepts auf Österreich auszuloten. Dieses vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur geförderte Projekt, dessen Ergebnisse demnächst vorliegen werden,
(1) verfolgt in erster Linie die Dekonstruktion sinnstiftender Identitätsenrwürfe und Leitbilder. Im Vordergrund steht die Analyse der Identifikationssymbole, der Zeitpunkte ihres Entstehens und ihrer politisch und soziokulturell geprägten Veränderungen, der Interessen ihrer Trägergruppen, ihrer Funktionen sowie der vielfältigen Formen von Inszenierung und Ritualisierung. Eine begleitende Studie ist um einen Vergleich von
lieux de mémoire der Slowakei und Österreichs bemüht.
(2)
In methodischer Hinsicht unterscheidet sich das österreichische Projekt von vergleichbaren Untersuchungen in anderen Ländern – Christina Kleiser setzt sich in ihrem Review Essay kritisch mit dem deutschen Gedächtnisorte-Projekt auseinander – in mehrfacher Hinsicht. Um eine wissenschaftlich kanonisierte Mythenproduktion auszuschalten, erfolgte erstens die Auswahl der »Gedächrnisorte« nicht durch die Projektleiter, sondern aufgrund einer österreichweiten, offenen Meinungsumfrage von 1998 (wenngleich auch die sehr allgemein formulierten Fragen nach dem als typisch für Österreich Geltenden bis zu einem gewissen Grad das Interesse von Historikern spiegelten und bestimmte Vorannahmen enthielten). Zum zweiten suchte das Projekt der ungebrochenen Bedeutung des mit den jeweiligen Bundesländern verknüpften >Landesbewusstseins< nachzugehen, dessen hoher Stellenwert ein Spezifikum der österreichischen Nationsbildung ist. Zum dritten wurde der Versuch unternommen, die meist unbeachteten Wechselwirkungen von nationalen und regionalen bzw. lokalen Identitätsentwürfen und die damit verbundenen Transformationsprozesse zu reflektieren.
Die Beiträge zu diesem Band greifen vor allem die beiden letztgenannten Ansätze auf. Hannes Stekl geht am Beispiel der österreichischen Landesausstellungen jenen Topoi und Formen des »Erinnerns von Geschichte« nach, welche den einzelnen Bundesländern unverwechselbare Besonderheiten und herausragende Qualitäten attestieren. Gottfried FIiedl nützt einen Besuch im Kärntner Landesmuseum zu Reflexionen über Geschichte und Funktion der Landesmuseen in Österreich. Dass diese »Speicher des Gedächtnisses« auch noch gegenwärtig Mittel einer staatlichen Identitätspolitik bilden, zeigen die Beiträge im Forum des Bandes: Ulrike Felt, Siegfried Mattl und Albert Müller beziehen Position in den neuerlichen Debatten um die Errichtung eines »Hauses der Geschichte der 2. Republik« bzw. eines »Hauses der Geschichte«.
Die Grenzen derartiger Instrumentalisierungsversuche »von oben« diskutiert der Beitrag von Ernst Langthaler. Am Beispiel der Festkultur einer niederösterreichischen Marktgemeinde nach 1945 weist er nach, dass lokale, regionale und nationale Identitäten keineswegs kurzerhand über das »Lernen von Geschichte«, sondern erst durch komplexe, andauernde, raum- und zeitgebundene Kommunikationsprozesse hervorgebracht werden. Identitätsentwürfe werden zwar »oben« – durch politische Bewegungen, Bildungseinrichtungen, Massenmedien etc. – konstruiert, finden aber »unten« – im Alltagsleben der Menschen – erst in oft kontroversielIen Diskursen und Übersetzungen eine selektive, partielle und modifizierte Anerkennung. Dieses an Stuart Hall und anderen orientierte Modell könnte künftig die geschichtswissenschaftliche Erforschung und Darstellung kollektiver Identitäten orientieren und differenzieren.
Hannes Stekl / Wien