Urban Cultures
In seinem viel beachteten Buch über Popular Culture. The Metropolitan Experience kommt Iain Chambers auf die fundamentale Spaltung des modernen Stadtlebens zu sprechen; die Spaltung in eine offizielle Kultur einerseits, mit ihren Schulen, Denkmälern, Theatern usw., und eine professionalisierte Unterhaltungskultur andererseits, die sich in Tanz-, Sport- und Wetthallen, in Kinos und anderen Vergnügungsstätten etabliert. Letztere, verknüpft mit den Medien der Trivialliteratur (Detektivgeschichten, Comix, Boulevardpresse), macht für Chambers die genuine urbane Kultur aus, und dies in doppelter Hinsicht: Sie ist das originäre Produkt der anonymen städtischen Massengesellschaft und ihrer Dynamik – die high-brow-culture lässt sich auch von ländlichen patrizischen Gemeinschaften pflegen; sie ist aber, zweitens, auch ein System, das sich gegen die folkloristischen (ethnizistischen, vokationellen etc.) Tradition und deren Moralen ausdifferenziert hat. Die Welt der Spielhallen und Vaudevilles, der Nickelodeons, Hunderennen, Boxkämpfe, Departmentstores und Revuen ist im Gegensatz zu den exklusiven Gemeinschaften der (bürgerlichen) Museumsgründer ebenso wie zu den Lebenswelten der sozialen Milieus von einer universalen Sprache durchzogen, die komplexe Verkettungen sozialen Sinnes und habituelle Verbindlichkeiten durch Attraktionen und Sinnfragmente ersetzt. Über die Kongenialität und Komplizenschaft der >anekdotischen< Großstadtkultur mit dem Chaos der massenhaften, spontanen und unkoordinierten Aktivitäten der Städter selbst haben Georg Simmel und nach ihm Walter Benjamin das Entscheidende gesagt: Die populare urbane Kultur ist nicht nur Darstellung von Anderem, von Hoffnungen, Sehnsüchten, Idealen, sondern sie ist zugleich wahrnehmungstechnische Einübung in Tempo, Instabilität und Oberflächlichkeit des Großstadtlebens.
Was so oder ähnlich von der Großstadt und ihrer Kultur zwischen 1870 und 1930 gesagt werden kann, verliert sich mit der Funktionszonenbildung, der Suburbanisierung und der Absorbierung von Öffentlichkeit in Individualverkehr und Telekommunikation, der Quintessenz moderner Stadtplanung. Spätestens Mitte der 1960er Jahre erkannte man eine Krise der Stadt, die vor allem eine Identitätskrise der Städter war und ist. (An ihrem vorläufigen Ende, im Jahr 2000, lebten bereits 48 Millionen Amerikaner freiwillig in der hochregulierten, anti-urbanen Welt der gated communities.) Die nachfolgenden Gegenstrategien liefen auf eine Re-Dramatisierung der "City" durch eine "Spektakelkultur" (Shopping Malls, Arkaden, Mega-Sportevenrs und Festivals) hinaus. Die Kritik daran, die (einschränkend gesagt: für amerikanischen Städte) paradigmatisch von Michael Sorkin formuliert worden ist, verurteilt, dass die Großstadt nun nicht mehr den kontextuellen Rahmen für die Ausdifferenzierung von Kulturen bildet, sondern selber als kulturelle Ware produziert wird. Während die gelebte städtische Öffentlichkeit verfällt, gestaltet ein kulturelles Unternehmertum gemeinsam mit der Politik Stadtteile und Regionen in simulierte urbane Landschaften um. Aller kommunikativer Stoff wird den Regeln und Verwertungsvorschriften von Kapitalinvestitionen unterworfen.
Es gibt allerdings auch eine alternative Kritik. Arkaden, Shopping Malls und Unterhaltungszentren können auch unter einem spezifisch räumlichen Konzept sozialer Wirklichkeit analysiert werden. In einer Welt suburbaner Isotope, meint etwa Sharon Zukor in The Cultures of City, werden die aktuellen Schauplätze der consumer society zwangsweise zu den einzigen verbleibenden Orten, an denen unterschiedliche Gruppen und Milieus ihre spezifischen Identitäten produzieren und manifestieren können. Im Rückblick – und der größere Teil der in diesem Heft präsentierten Aufsätze (1) bezieht sich auf die »klassische« Zeit des urbanen Entertainments – wird unter Berücksichtigung der Diskurse insbesondere der Cultural Studies die Beachtung des Ortes und der an ihm herrschenden Regeln von wachsender Bedeutung. Schließlich geht es bei Einrichtungen wie dem Zoo (Eric Ames), dem Department-Store (Matthias Erdbeer), dem Bild im öffentlichen Raum (Sara F. Hall), den Ausstellungen (Werner Schwarz) und dem Kino (Anna Schober) -beziehungsweise beim tatsächlich Verbund dieser Medien – um die Ablösung des» botanisierenden« Flaneurs, den Walter Benjamin als urbanen Prototyp zur Zeit Baudelaires charakterisiert hat, durch das involvierte moderne Publikum. Die (klassische) urbane Kultur hatte deshalb trotz oder wegen ihrer kommerziellen Natur ein demokratisches Potenzial, weil sie auf egalitäre Partizipation abstellen musste, um sich gegen städtische Folklore wie gegen Hochkultur durchzusetzen. Das Vergnügen im Zoo und im Luna-Park war immer auch eines, das sich die Menge selber bereitet hat; die Unternehmer waren erfolgreich, weil sie den vielfältigsten Formen von Teilhabe und Beobachtung ausreichend Spielraum gelassen haben. An der Verengung der Zugangs- und Partizipations-Regeln und dem Übermaß an Kontrolle, das sie den zeitgenössischen Vergnügungsinstitutionen auferlegen, drohen sich die Strategen der Arkaden und Malls selbst zu paralysieren.
Roman Horak und Siegfried Mattl / Wien
(1) Die Beiträge sind hervorgegangen aus einem gemeinsamen Panel auf der 3rd International Crossroads
in Cultural Studies Conference, Birmingham, Juni 2000 (» The City: Visual Attractions and Liminal Space«)
Eric Ames
Animal Attractions: Cinema, Exoticism, and German Modernity
Werner Schwarz
Konsum des Anderen. Schaustellungen »exotischer« Menschen in Wien
Sara F. Hall
Caught in the Act: Visualizing a Crime-Free Capital
Robert Matthias Erdbeer
Diskurskulturgeschichte. Zu Roben Müllers »Irmelin Rose«.
Anna Schober
Kino Passion. Soziale Räume und politische Bewegungen in Wien seit 1945
Angelus Eisinger, Walter Prigge, Roman Horak, Siegfried Mattl
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