Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11. Jg., Heft 1, 2000

Innovationen - Wie Neues entsteht

Innovationen – Wie Neues entsteht

Zu den selbstverständlichen Merkwürdigkeiten für Historiker gehört es, meist nur indirekt mit ’Neuem‘ konfrontiert zu werden. Denn die wichtigen Übergänge, Passagen und Prozesse sind bereits vollzogen und Neues geschieht unter historischer Sonne typischerweise – nicht. Diese zweifellos Beobachter-determinierte ’Falle‘, die sich hier – nicht nur – disziplinspezifisch auftut, wurde von gar nicht so unbedeutenden Historikern gewissermaßen ideologisiert: zur histoire immobile etwa, zur Strukturgeschichte oder zur historischen Anthropologie.
 
Neues wird aber auch unter dem Schlagwort der ’Innovationen‘ immer nur ex post zum Gegenstand der sozial-, technologie- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschung. Und ”wie Neues entsteht“, ist auch in den Wissenschaften der Wissenschaften unter der Leitperspektive von ’Strukturen vergangener wissenschaftlicher Revolutionen‘ abgehandelt worden. So enthält Thomas S. Kuhns
Sammlung von wissenschaftshistorischen Beispielen im wesentlichen die Siegeszüge des ”einstig Neuen“, nämlich von ”Kopernikus, Newton, Lavoisier und Einstein“.
 
Diese Beschränkungen auf Bereiche diesseits des Neuen haben zu unterschiedlichen Ausweich- und Umgehungsstrategien geführt: Bei Historikern hat das Fehlen des Neuen zwei verschiedene Hauptwege entstehen lassen. Auf der einen Seite sehen wir die ’historistische Steigerung‘, das ’eigentlich‘ Gewesene – entweder unter ”Auslöschung“ des Selbst, der frühe Wunsch des Leopold von Ranke, oder unter ”Beteiligung“ des Selbst, die spätere Phase historistischer Selbstreflexion – in den alleinigen Vordergrund zu stellen. Auf der anderen Seite entstand speziell in den letzten Jahrzehnten ein Interesse daran, was ”nicht eigentlich gewesen“ – oder was der ’historistische Blick‘ aus den Augen verloren beziehungsweise nie in das Blickfeld bekommen hat: Alltag, Frauen, außereuropäische Kulturen.

Im Feld der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften herrschen hauptsächlich kompensatorische Neigungen vor, die fehlende Faßbarkeit der Entstehung des Neuen durch eine ’Rhetorik der neuen Einzigartigkeit‘ und einen ’Jargon der permanenten Innovation‘ zu sublimieren. Und die wissenschaftswissenschaftliche Perspektive genügt sich hinreichend selbst damit, die mannigfaltigen kognitiven wie nicht-kognitiven ’Netze‘, die den Wissenschaftsentwicklungen zugrunde liegen, auf immer andere und damit neue Weisen zu re-konfigurieren. Man zeigt Design-Variationen – und rekonfiguriert Bekanntes.
 
Der Augenblick des Neuen, so schön er auch sein mag, er findet normalwissenschaftlich derzeit kein Verweilrecht. Dabei läßt sich die Frage dieses Heftes, ”wie Neues entsteht“, auf mehrfache Weisen beantworten. Eine der elementaren Antworten lautet beispielsweise, daß die Buchstabenmenge eeeeehinnsstttuw ausreicht, ”Wie Neues entsteht“ entstehen zu lassen. Aus 5×e, aus 3×t, aus 2×n, aus 2×s, aus 1×i, aus 1×h, aus 1×u sowie aus 1×w kann nach geeigneten Kompositionen beziehungsweise Rekombinationen ”Wie Neues entsteht“ hervortreten. Eine ähnliche Antwort könnte darauf verweisen, daß ”Wie Neues entsteht“ aus unterschiedlichen Punkten und nach so und so vielen Transformationen aus ”Weisse hueten nett“, aus ”Seestuten weihen“, aus ”Enten husten weise“ oder aus ”weise Hustenenten“ hervorgegangen ist.
 
Erst gegen das Ende dieses Heftes zu werden sich einige Gründe versammelt finden, welche gerade solche scheinbar trivialen ’Scrabble-Transformationen‘, die mit den Fragen nach der Entstehung des Neuen überhaupt nicht zusammenhängen, in den Mittelpunkt des Interesses rücken werden.
 
Der Weg bis zu diesem Schlußpunkt ist allerdings umfangreich geworden, aber kognitiv überaus spannend zu verfolgen. Mit dem vorliegenden Heft ist es, so hoffen wir, gelungen, die Frage nach der Entstehung des Neuen – und man sollte hinzufügen: vornehmlich das Neue innerhalb der Wissenschaft, nur am Rande jenes der Technologie – auf so etwas wie eine ’Arbeitsbasis‘ zu stellen.
 
Die Artikel in diesem Heft vermitteln trotz der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen eine Kohärenz, die angesichts der Schwierigkeiten und der Gewöhnungsbedürftigkeit des Themas ungewöhnlich ist – und erstaunt.
 
Albert Müller beginnt mit einem Fallbeispiel, dem Biological Computer Laboratory an der University of Illinois (1958–1976). Dort wurden unter der Ägide von Heinz von Foerster, dessen Anliegen es war, die Kybernetik im Laufe der Jahre von einer ’ersten‘ auf eine ’zweite‘ Stufe zu heben, zukunftsweisende Ideen geboren, Programme formuliert und pädagogisch neue Wege beschritten.
Obgleich diese Institution in den funding wars letztlich aufgerieben wurde, setzte nach seiner Schließung eine bemerkenswerte Welle der Diffundierung ein. Grundgelegt wurde dies allerdings sowohl im kybernetischen Forschungsprogramm, das auf Interdisziplinarität, auf eine ’coincidentia oppositorum‘ zielte, als auch in der ungew¨ohnlichen Zusammensetzung des BCL, mit der diese ”transdisziplinäre“ Haltung umgesetzt werden konnte.

Ellen Jane und Rogers Hollingsworths bieten auf einer breiten empirischen Grundlage eine Kontrast-Untersuchung von 28 Instituten, denen ein ”großer Durchbruch“ in den bio-medizinischen Wissenschaften gelang, und hundert Instituten, deren Aktivität und Ergebnisse man als ’normalwissenschaftlich‘ bezeichnen kann. Anhand der Merkmale Vielfalt, Tiefe, Differenzierung, hierarchische und bürokratische Koordination, interdisziplinäre und integrierte Aktivitäten, Leadership und Qualität werden die organisatorischen Settings der Forschungslaboratorien untersucht. Die in solchen organisatorischen Settings jeweils geförderte oder  nicht geförderte ”Hybridit¨at“ oder ”Weite“ von kognitiven Domänen erweist sich zusammen mit ”organischen“ Institutsstrukturen, mit einem hohen Grad an ”horizontaler Kommunikation“ oder mit klar vorgegebenen ”Institutszielen“ als Schlüsselfaktor für die Wahrscheinlichkeit eines ”großen Durchbruchs“ im Bereich der Biomedizin.

Jerry Hage untersucht die Voraussetzung zur Innovation in Unternehmen und anderen Organisationen aus einer vergleichenden, transkulturellen Perspektive. Seine Formel der ”komplexen Arbeitsteilung“ erweist sich zunächst als das Ergebnis einer schwierigen Balance zwischen Differenzierung und Entdifferenzierung der Tätigkeiten unterschiedlicher, in die Organisation involvierter Akteure. ”Riskante Strategien“ und ”organische Organisationskulturen“ sind zwei weitere Faktorengruppen, die Hage benennt. Am Beispiel von Forschungseinrichtungen wird nun gezeigt, daß diese in der Management-Forschung gewonnenen
Kategorien sich generalisieren lassen.
 
Diese Analysen werden in der Arbeit von Karl H. Müller versuchsweise synthetisiert, zusammengefaßt und erweitert. Unter dem Generaltitel ”Wie Neues entsteht“ werden nach einer Reihe von begrifflichen Klärungen zum Status des Neuen vier systematische Analysewege beschrieben, auf denen das Phänomen des Neuen untersucht werden kann. Bemerkenswert an diesen vier Heuristiken dürfte vor allem die Tatsache sein, daß in allen vier Fällen so etwas wie ein einheitliches Erklärungsmuster gefunden werden konnte, das zudem auf sehr verschiedenen Bereichen eingesetzt werden kann. Sollten sich, was in diesem Artikel allerdings nicht mehr geschieht, mit diesen Heuristiken interessante wissenschaftshistorische Fallstudien aufbereiten und durchführen lassen, dann hätte die Frage, wie Neues entsteht, wiederum ihr wissenschaftliches ’Heimrecht‘ gefunden.
 
Aber die Frage, wie Neues entsteht, besitzt eine logische Kehrseite, die da lautet: Wie Neues nicht entsteht. Und wenn sich ’Faktorengruppen‘ für die Entstehung des Neuen finden lassen, dann sollte die Absenz solcher Faktoren auch die erweiterte Reproduktion des Alten, des Bekannten wie auch die Verhinderung des Neuen miterklären helfen. Und in der Tat verdeutlicht die Arbeit von Christian Fleck, daß mehrere gewichtige nicht gegebene ”Schlüsselfaktoren“ reichen, um Neues nicht entstehen oder wenigstens zeitweilig nicht aufkommen zu lassen. Ohne dem spannend erzählten Sitten- und Bildungsroman aus den fünfziger
und frühen sechziger Jahren von Österreich II vorgreifen zu wollen, kann einleitend eine systematische Zusammenfassung versucht werden. Eine für die österreichische Landschaft der damaligen Jahre geplante ’Innovation‘, nämlich die Gründung eines Instituts für ”Advanced Studies“ im Bereich der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, mißrät in den ersten Jahren, indem es an die bestehende politische Kultur akribisch assimiliert und vorauseilend angepaßt wird. Einige der notwendigen organisatorischen Schlüsselfaktoren für innovatives wissenschaftliches Arbeiten, sie blieben in der schwierigen ’Gründerzeit‘ des nachmaligen Instituts für Höhere Studien auf der politik-wissenschaftlichen Strecke. Dazu zählt beispielsweise eine klare strategische Positionierung eines solchen Instituts, dazu gehören sehr hohe wissenschaftliche Standards in der Personalrekrutierung, dazu reiht sich auch ein hinreichender Grad an ’Autonomie‘ vom politisch-wirtschaftlichen Umfeld. Alle diese ”Schlüsselfaktoren“ fehlten
– und die vorhandenen Schlüsselelemente für Innovation wie beispielsweise eine interdisziplinäre Zusammensetzung oder ein starker sozialer wie kommunikativer Zusammenhalt erwiesen sich in dieser Phase als zu schwach, um diese Kehrseiten kompensieren und aufwiegen zu können. Zwar konnte sich nach 1968 das Institut für Höhere Studien einen gewichtigen Platz innerhalb der österreichischen Ökonomie, Politikwissenschaft oder Soziologie aufbauen, doch lastete die ”Erbschaft dieser Frühzeit“ an allen weiteren Umstrukturierungen.

Im Forum findet sich ein Beitrag von Ruth Beckermann, der sich mit den in Österreich diskutierten Plänen eines Hauses der Geschichte beziehungsweise eines Hauses der Toleranz befaßt und der gegen die gegenwärtige Tendenz zu einer musealisierenden Zementierung bestehender reaktionärer Geschichtsbilder und ’Identitäts‘-Konzeptionen antritt. Am Beispiel dieser vor allem politischen Diskussion läßt sich abermals nachvollziehen, ”wie Neues nicht entsteht“ und nicht entstehen kann. Götz Aly verdanken wir schließlich einen Survey in die nun vom israelischen Staatsarchiv freigegebenen Aufzeichungen Adolf Eichmanns.
 
Albert Müller und Karl H. Müller, Wien

Inhalte

Albert Müller
Eine kurze Geschichte des BCL. Heinz von Foerster und das
Biological Computer Laboratory

J. Rogers Hollingworth/Ellen Jane Hollingworth
Radikale Innovationen und Forschungsorganisation. Eine Annäherung

Jerald Hage
Die Innovation von Organisationen und die Organisation von Innovationen

Karl H. Müller
Wie neues entsteht

Christian Fleck
Wie Neues nicht entsteht. Die Gründung des Instituts für Höhere Studien in Wien durch Ex-Österreicher und die Ford Foundation

Ruth Beckermann
Toleranz und Zeitgeschichte

Götz Aly
Adolf Eichmanns späte Rache

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