Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 15. Jg., Heft 2, 2004

Fakten Daten Diskurse

Dieses Heft ist das typische Produkt redaktioneller Zwänge und doch auch mehr. Ein geplantes Themenheft verzögerte sich, was uns Gelegenheit bot, einige uns in den letzten Monaten angebotene und von uns geschätzte Texte endlich erscheinen zu lassen. So entstand ein ›offenes‹ Heft, das nicht,wie sonst üblich, einem einzigen Rahmenthema gewidmet ist. Exemplarisch dokumentiert es die Vielfältigkeit wenn nicht Unübersichtlichkeit in den Geschichtswissenschaften und ihren historischen Nachbardisziplinen. Die Spannweite reicht von der Recherche von Fakten und Daten im Paradigma einer vornehmlich politisch und ökonomisch interessierten Zeitgeschichte bis hin zur philosophischen Frage nach dem Subjekt im rezenten Diskurs und zu den ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Voraus-Setzungen der Foucaultschen Archäologie des Wissens – einem Gründungstext der Diskursanalyse.

Nicht nur die Themen sind in höchstem Maße verschieden, auch die Materialien, an denen sie abgehandelt werden, die Methoden,mit denen die Ergebnisse erarbeitet werden, und nicht zuletzt der Tonfall und die Begriffe, in denen hier gesprochen und geschrieben wird. Wer wie Götz Aly die Finanzierung der deutschen Wehrmacht und ihres Krieges in Griechenland aus der Beraubung der deportierten Juden von Saloniki untersucht, recherchiert in knapper, nüchterner Sprache Daten, Zahlen und Fakten aus den klassischen Archiven. Freilich steht auch er in einem spezialisierten Diskurs der Forschung, auf den er sich beziehen und demgegenüber er seine These rechtfertigen und verteidigen muss. Doch insgesamt trägt er seine Untersuchung im Duktus der kriminalistischen Beweisführung vor, die Fakten und Daten zu einem Puzzle zusammenfügt, das der These höchstmögliche Plausibilität verleiht. Wer wie Christof Parnreiter nach den Auswirkungen der jüngeren und jüngsten Globalisierungsprozesse auf die Bauern und Arbeiter in Mexiko fragt, sammelt wirtschaftsstatistische Daten und setzt ökonomische und politische Theorien ein, um die komplexen Zusammenhänge zu interpretieren. Wer hingegen nach den Denkvoraussetzungen der Geschichtswissenschaft fragt, etwa danach,welche Vorstellung sich liberale, konservative und links-nietzscheanische Philosophen neuerdings vom totgesagten Subjekt machen, oder wie die mittlerweile bekannt gewordene These, Geschichte sei, da Historiker über keinen Standpunkt außerhalb der Geschichte verfügen, nur als Diskursgeschichte zu betreiben, denkmöglich wurde, der untersucht geschichtstheoretische, philosophische oder psychoanalytische Texte auf inter- und intratextuelle Zusammenhänge.

In den Beiträgen von Hermann Rauchenschwandtner und Alessandro Barberi erhebt sich die Sprache in die Abstraktionen und analytischen Volten ihrer primären Texte, und eben dies bereitet einem Teil der Geschichtswissenschaftler/innen erhebliche Rezeptionsschwierigkeiten. Die diskursanalytischen Historiographien sprengen die Usancen der Geschichtswissenschaften nicht nur mit ihrer Sprache und ihren Begriffen, sondern auch indem sie einige Voraussetzungen der Geschichtswissenschaft – angesichts verbreiteter Theorieabstinenz auch provozierend – in Frage stellen. Hingegen sind die innovativen Historiographien des Fakten und Daten recherchierenden Typus leicht in die Geschichtswissenschaft zu integrieren, weil sie keine besonderen begrifflichen Schwierigkeiten erzeugen und den Lesegewohnheiten des Fachpublikums und sogar noch eines weiteren Publikums vollends entsprechen. Damit ist annähernd die Herausforderung umrissen, auch angesichts der sich offenbar immer noch ausdehnenden Spannweite im Gespräch zu bleiben, und sei es nur in der neugierigen Wahrnehmung der Bewohner/innen all der anderen Zimmer im eigenen Haus.

Freilich kann bestritten werden, dass noch von einer Disziplin, von einer Fach- oder Einzelwissenschaft zu reden ist. Die Herausgeber/innen dieser Zeitschrift vertreten die These von seit den 1920er Jahren immer deutlicher »polyparadigmatisch« (Albert Müller) gewordenen Geschichtswissenschaften.Um die Metapher vom Haus der Geschichte ein weiteres Mal zu verwenden: Es ist kein Miethaus mit vielen Zimmern und schon gar kein Einfamilienhaus, sondern ein belebtes Stadtviertel mit älterem, jüngerem und jüngstem Baubestand. Die Bewohner/innen all der verschieden großen Häuser bleiben bei ihrer Arbeit vorwiegend unter sich. Nur wenn sie ihre Häuser verlassen, um Feste und Versammlungen zu besuchen oder auch beim Einholen von neuem Material treffen sie ihre Nachbarn, reden miteinander, staunen oder entsetzen sich über die Differenzen, und wenn sie neugierig sind, beginnen sie ernsthaft zu diskutieren. Dieser Austausch geschieht programmatisch an dafür geeigneten kommunikativen Orten, an denen Qualitäts-Standards gelten, aber auch die Regel, dass Unterschiede sichtbar gemacht, aber kein Kriterium für den Ausschluss aus
der Nachbarschaft werden sollen. Nach der Vorstellung ihrer Herausgeber/innen möchte die Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften ein solcher Ort sein.

Reinhard Sieder / Wien

Inhalte

Götz Aly
Die Bekämpfung der Inflation in Griechenland und die Deportation der Juden von Saloniki

Christof Parnreiter
Wie die Globalisierung Bauern und Arbeiter überflüssig macht. Mexiko 1980-2000

Hermann Rauchenschwandtner
Verendungen und Aufbrüche des Subjekts. Die Ästhetik der Existenz, die historische Kontingenz des Selbst und die konservative Apologie einer neuen schönen Seele

Alessandro Barberi
Diskursanalyse und Historiographie. Prolegomena zu einer Archäologie der Archäologie

Jon Mathieu
Zwei Staaten, ein Gebirge: schweizerische und österreichische Alpenperzeption im Vergleich (18.- 20. Jahrhundert)

Anita Ziegerhofer-Prettenthaler
Von der nationalen zur globalisierten Zeitgeschichte?

Susan Zimmermann
Europas desintegrative Integration

Isabel Richter
Der Traum vom Leben in der Mitte. Machbarkeitsfantasien im 19. und 20. Jahrhundert

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